Dass Erzählen biblischer Geschichten und Religionsunterricht grundsätzlich zusammengehören, ist nichts Neues. Wer und wie Gott ist, lässt sich schwer abstrakt erklären, das konkretisiert sich in den Erzählungen der christlichen Tradition immer wieder aufs Neue. Die Bibel ist das Alleinstellungsmerkmal unseres Unterrichts. Dabei ist dieses Buch niemals abgeschlossen, es muss immer neu entstehen und in die Gegenwart übersetzt werden. Die Perspektive Gottes auf die Welt lernen wir in der Auseinandersetzung mit den biblischen Geschichten kennen. Bibeltexte leiten dazu an, die Wirklichkeit neu wahrzunehmen. Sie enthalten Erfahrungen von Menschen mit sich selbst, mit anderen Menschen und mit Gott, an denen Lesende und Hörende teilhaben können.

Der Bibliolog ist eine seit über zwei Jahrzehnten praktizierte Methode, biblische Geschichten in Schule oder Kirchgemeinde nicht nur zu lesen und zu hören, sondern sie sprachlich zu inszenieren. Sie ermöglicht eine aktuelle und lebensrelevante Begegnung mit der christlichen Tradition und meistert so eine der größten Herausforderungen des gegenwärtigen Religionsunterrichts, nämlich eine Brücke zwischen der biblischen Tradition und den Schüler:innen zu schlagen.

Vorgehensweise

Nach einer Erklärung der Methode und einer erzählerischen Hinführung in Zeit und Raum der Geschichte wird diese gelesen. Dabei wird immer wieder gestoppt und eine fragengeleitete Identifikation mit einer Rolle angeboten: „Ihr alle seid Petrus. Jesus hat dich gerufen: Komm! Er hat dich aufgefordert, zu ihm aufs Wasser zu steigen. Was geht in dir vor, wenn Jesus dich so ruft?“ Die Schüler:innen schlüpfen in Petrus hinein. Mit ihm stehen sie am Bootsrand, an der Schwelle zum ersten Schritt, um auszuprobieren, ob und wie das Wasser trägt. Sie antworten als Petrus. Und gleichzeitig füllen sie die Leerstellen des Textes, das, was nicht erzählt wird, nämlich wie es Petrus in diesem Moment mit sich selbst ergeht. Dabei greifen sie zurück auf eigene Erfahrungen aus ähnlichen Schwellensituationen. Oder sie probieren spielerisch Haltungen aus: Wie kann es jemandem gehen, der einer unmöglichen Aufforderung Folge leistet und den Schritt aufs Wasser wagt? Viele ‚Petrusse‘ kommen zu Wort. Alle Äusserungen bleiben nebeneinander stehen. Jeder Beitrag wird aufgenommen, wird so gewürdigt und ist für alle noch einmal zu hören. Auch für den Sprechenden selbst. Das Nachklingen verlangsamt das Geschehen. Durch diese Vorgehensweise wird die Multiperspektivität der biblischen Figuren in der Geschichte für alle erlebbar. Sinn entsteht dadurch, dass die Teilnehmenden die Freiräume eines Textes mit ihren Erfahrungen füllen und sich so seinem Gehalt annähern. Und weil Erfahrungen unterschiedlich sind, gibt es eben verschiedene Deutungen desselben Textes, die nebeneinander stehen können.

Ziele

Zuallererst geht es um eine lebendige und persönliche Auseinandersetzung mit den biblischen Geschichten. Spielfreude entsteht, wenn ich als Zachäus auf dem Baum sitze, als Kissen unter dem Kopf von Jesus mich äussere, während rundherum der Sturm tobt, als Mose dem brennenden Dornbusch gegenüber stehe oder mich mit dem knurrenden Volk auseinandersetzen muss. Das Gute dabei ist: Niemand muss auf die Bühne, sondern ich bleibe sicher auf dem eigenen Stuhl sitzen und das Geschehen spielt sich auf der inneren Bühne ab. Das kann auch passieren, ohne dass ich mich aktiv äussere.

Das Erleben eines Bibliologs zielt darauf, dass Schüler:innen biblische Geschichten kennenlernen. Sie nutzen die unbesetzten Räume und erarbeiten sich so veränderte Sichtweisen auf sich selbst, auf andere Menschen und möglicherweise auch auf Gott. Und sie können Bezüge herstellen zwischen den biblischen Geschichten und ihrem eigenen Leben, das so offener für Grosses werden kann. In all dem sind sie eigenständige und eigensinnige Akteure ihrer Bildungsprozesse.

Dadurch, dass er zentrale religiöse Texte erleben und von innen heraus erkunden lässt, eröffnet der Bibliolog einen Weg in die christliche Religion. Jede Bibelgeschichte erzählt von der Begegnung des Menschen mit Gott, mit dem Unverfügbaren, mit dem Anderen. Dabei lernen Schüler:innen etwas davon, was Religion ausmacht, wie nämlich Menschen ihr Verhältnis zu Gott suchen, finden und gestalten.

Erfahrungen und Voraussetzungen

Im Bibliolog wird den Schüler:innen Auslegungskompetenz zugetraut. Die Theologin Uta Pohl-Patalong, welche die aus den USA stammende Methode von Deutschland aus bekannt gemacht hat, versteht diese grundsätzlich als einen leistungsfreien Raum, der paradoxerweise Leistungen von Schüler:innen für das Fach Religion steigern kann.

Der Einsatz der Bibliologmethode im Unterricht setzt die Teilnahme an einem Grundkurs voraus, eine qualifizierte Fortbildung ist unabdingbar. Pohl-Patalong begründet das damit, dass Bibliolog keine Methode wie beispielsweise das Gruppenpuzzle oder die Fishbowldiskussion sei, die man einfach nur kennen, verstehen und gut anleiten muss, sondern dass hinter dem religionspädagogischen Ansatz eine bestimmte Hermeneutik und Haltung stehen, die man gemeinsam mit den Bibliologtechniken erlernen und ausprobieren muss.

Ein Bibliologgrundkurs für den Religionsunterricht findet 2024 in Chur statt, am 6./7. September und 1./2. Oktober.

Literatur

Uta Pohl-Patalong, BibliologBd.3, Handlungsfeld Religionsunterricht,Kohlhammer, Stuttgart 2019.

Uta Pohl-Patalong, Bibliolog Bd.1, Grundformen, Kohlhammer, Stuttgart 2013