Jesaja: Ein Reis aus dem Baumstumpf lsais

Die erste Strophe zitiert den Propheten Jesa­ja, den im 8. Jahrhundert v.Chr. in Juda le­benden Propheten, dessen Schrift von der Exegese als Protojesaja bezeichnet wird. Sein Hauptanliegen ist die Kritik an sozialen Missständen, die er vor allem der Klasse der »neuen Mächtigen« anlastet, die im Zuge der Monarchie zu Einfluss gekommen waren (vgl. Koch 117ff): » Weh euch, die ihr schon früh am Morgen hinter dem Bier her seid und sitzen bleibt bis spät in die Nacht, wenn euch der Wein erhitzt. Bei ihren Gelagen spielt man Zither und Harfe, Pauken und Flöten; aber was der Herr tut, beachten sie nicht, was sei­ne Hände vollbringen, sehen sie nicht« (Jes 5,11-12).
Auch die Aussenpolitik ist Zielscheibe von Je­sajas Polemik. Er kritisiert die politischen und diplomatischen Manöver, die auf eine Unterstützung der Grossmächte Assyrien bzw. Ägypten abzielen und fordert stattdes­sen Glauben und Gottvertrauen ein. Um sei­ne Botschaft öffentlich zu unterstreichen, greift Jesaja zu Provokationen, die deutlich gegen Sitte und Anstand verstossen: So läuft er (drei Jahre lang?) nackt durch Jerusalem, weil sich seine Volksgenossen mit den Ägyp­tern verbündet haben.
Den Untergang sieht der Prophet von Assy­rien her kommen. Diese Vernichtung wird beschrieben als eine Zerstörung der riesigen Wälder. »Seht, Gott der Herr der Heere, schlägt mit schrecklicher Gewalt die Zweige ab … Das Dickicht des Waldes wird mit dem Eisen gerodet, der Libanon fällt durch die Hand eines Mächtigen« (Jes 10,33-34).
Doch schon der nächste Vers, der erste Vers des Kapitels 11, enthält ein Bild der Hoff­nung: »Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor, ein junger Trieb aus seinen Wurzeln bringt Frucht.« Der junge Trieb wird in den folgenden Versen mit dem utopischen Friedenskönig gleichgesetzt, der bei Jesaja noch nicht Messias genannt wird. Im Sinne einer nationalen Restauration wächst das Reis aus dem Baumstumpf Isais ( oder Jesses) hervor; Isai ist der Vater Davids. Der Geist Gottes, die Ruah, liegt auf ihm. Das Reis, der junge Trieb, ist ein Bild für den neu­en König, mit dessen Ankommen eine umfas­sende Friedensvision verbunden ist.
Die Verheißungen des Jesaja, die einen Frie­denskönig voraussagen, haben den frühen Christen die Sprache und den Erwartungsho­rizont vorgegeben, innerhalb dessen sie die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazaret für sich einordnen konnten. Diese Verbindung von prophetischer Verkündigung und Christolo­gie ist bis heute in der Liturgie der Advents­zeit deutlich sichtbar. Nach kirchlicher Deu­tung sind die Kapitel 7, 9 und 11 bei Jesaja Weissagungen auf Jesus Christus hin. » Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns ge­schenkt. Die Herrschaft liegt auf seiner Schulter; man nennt ihn: wunderbarer Ratge­ber, starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Seine Herrschaft ist groß, und der Friede hat kein Ende« (Jes 9,5-6a). Dieser Vers wird verstanden als die Erfüllung der in Kapitel 7 erfolgten Ankündigung: »Darum wird der Herr euch von sich aus ein Zeichen geben: Seht, die Jungfrau wird ein Kind emp­fangen, sie wird einen Sohn gebären und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben« (Jes 7,14). Der Jungfräulichkeit der Mutter kommt an dieser Stelle übrigens keine besondere Bedeutung zu; das Wort be­zeichnet allgemein einfach eine junge Frau. Das Ungewöhnliche an diesem Zeichen ist vielmehr die Namensgebung. Damit steht die junge Frau stellvertretend für das ganze Volk, das Grund haben wird, Gott zu danken. (vgl. Wildberger 29 3)

Lukas und Matthäus: Das göttliche Kind

800 Jahre später greifen die Evangelisten Lu­kas und Matthäus die Verheissungen des Jesa­ja auf und verbinden sie mit der Person Jesu. Matthäus macht dies ganz ausdrücklich durch ein Reflexionszitat deutlich (Mt 1,23), während bei Lk 1,26-3 8 der Bezug durch die besonderen Eigenschaften des erwarteten Kindes hergestellt wird. » Er wird gross sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herr­schaft wird kein Ende haben« (Lk 1,32 f). Die Mutter des göttlichen Kindes hat, anders als noch beim Propheten, einen Namen: Ma­ria. Beide Evangelisten versuchen in ihren Er­zählungen zu erklären, wie eine jungfräuliche Empfängnis -die ja für Jesaja kein Thema war -möglich sein kann. In der katholischen Exegese hat diese Frage immer eine herausra­gende Rolle gespielt. Seit Ambrosius und Au­gustinus ist die »Marienfrage« -Wie kann das geschehen? -auf ein Jungfräulichkeitsge­lübde zurückgeführt worden (vgl. Ernst 61). Den Evangelisten ging es weniger um die Be­sonderheit Marias. Die wunderbare Geburt ist vielmehr ein weiteres Charakteristikum des gottgesandten Messias. Die Jungfrauen­geburt steht theologisch am Ende, nicht am Beginn der christologischen Entwicklung der Urkirche, die sich ja erst spät für die Anfänge Jesu interessierte (vgl. Bovon 66).
Die Sprache des Jesaja vermochte offensicht­lich die christologischen Überzeugungen der jungen Gemeinden angemessen auszudrü­cken, und das heisst: das Neue, Unerhörte und die Kontinuität der Tradition gleicher­maßen. Als weiteres Versatzstück werden übrigens die bei Jesaja 1,3 in einem gänzlich anderen Zusammenhang erwähnten Tiere Ochs und Esel durch apokryphe Schriften in die Weihnachtsszenerie ein­gebracht.
In der Religionsgeschichte wird betont, dass der Topos der jungfräulichen Geburt eines göttlichen Kindes sowohl in Ägypten wie auch im Römischen Reich verbreitet war. In der nachbiblischen Tradition finden sich ausserdem Legenden über solch wunderbare Geburten von Isaak und Moses. Die Funk­tion dieser mythologischen Sprechweise ist immer gleich geblieben: die Besonderheit des so geborenen Kindes erzählend zu verdeut­lichen.

Es ist ein Ros entsprungen

Wiederum mehr als 1500 Jahre später ent­steht das Weihnachtslied. Es verwendet die Bildsprache des Jesaja, die Weihnachtserzäh­lungen des Lukas und Matthäus und verbin­det sie mit der traditionellen Christologie und Mariologie. Der Gipfel dieser Inkulturation ist die Hineinnahme der mitteleuropäischen Jahreszeit, des kalten Winters.
Das Lied bezieht sich ausdrücklich auf die biblische Tradition: wie uns die Alten sungen. Zunächst bleibt die Sprache dem Floralen verhaftet: ein Ros, ein Blümlein, ein Röslein. Ab der zweiten Strophe ist dann von einem Kind die Rede, das erst in der letzten Strophe in seiner Wesenheit qualifiziert wird:wahr Mensch und wahrer Gott; seine Bedeutung ist die: hilft uns aus allem Leide, rettet vor Sünd und Tod. Der christologische Aspekt wird im Verlauf der Strophen immer deutlicher und komplexer. Dabei bleibt die sinnliche Kom­ponente durch Ausdrücke wie duftet uns so süß, heller Scheinerhalten. Der helle Schein, der die Finsternis erleuchtet, erinnert wiede­rum an Jes 9: »Das Volk, das im Dunkeln lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf« sowie an die Christologie des johan­neischen Prologs, auf die auch aus Gottes ewgem Ratin der zweiten Strophe verweist. Das Lied gipfelt in der Formulierung der Hy­postase,wahr Mensch und wahrer Gott. Auf dem Konzil zu Chalkedon 451 festgelegt, gilt sie als der definitorische Abschluss der Christologie. Das Lied endet aber nicht mit der »trockenen« dogmatischen Aussage, son­dern hat in der deutenden Erklärung ebenso das Tröstliche: rettet vor Sünd und Tod. Dass es sich bei dem im Lied genannten Kind um Jesus handelt, wird durch die Benennung der Mutter Maria deutlich. Die Bedeutung Marias wird in der zweiten Strophe hervorgehoben: sie ist die reine Magd und sie alleine hat das Röslein gebracht. Damit dokumen­tiert diese Strophe die bis dahin enorm ge­wachsene Bedeutung der Mariologie vor al­lem in der Volksfrömmigkeit. Maria ist dort die Adressatin im Gebet, besonders in Situa­tionen von Not und Verzweiflung, und sie scheint als Mittlerin den Abstand zwischen Mensch und Gott erheblich verkürzen zu können.
In der Volksfrömmigkeit hat die Marienver­ehrung dem Glauben an Jesus Christus -un­geachtet theologischer Einwände – sicher kaum nachgestanden. Das Lied setzt diese beiden Aspekte jedoch nicht gleich, sondern verbindet sie symbolisch. Aus dem Trieb bzw. dem Reis des Jesaja ist im Weihnachts­lied eine Rose geworden; diese Veränderung bewirkt, dass die Anklänge des Zarten und Sinnlichen durch alle Strophen durchgehal­ten werden können. Gott zeigt sich im gött­lichen Kind, wird verglichen mit Zartheit und Duft einer Rose, stellt sich dar als verletzlich und stark zugleich.
Die Rose ist in der Frömmigkeitsgeschichte aber auch ein Bild für Maria selbst. Das be­zeugen viele Marienlieder. » Du makellose, himmlische Rose«, »Sie ist die reinste Rose«, » Es blüht, den Engeln wohlbekannt, in Got­tes Paradiese, die schönste Ros aus heilgem Land, von Farb und Duft so süße« (aus dem Trierer Gesangbuch von 1955). Es wird in diesem Zusammenhang die Schönheit, die Reinheit und das von Gott Auserwähltsein betont: » Rose ohne Dornen -du von Gott Er­korne! « (aus dem Lied »Meerstern, ich dich grüße«). Die Symbolik der Rose verbindet Je­sus mit Maria.
Den Höhepunkt bildet die Lichtsymbolik – mit seinem hellen Scheine vertreibt ‘s die Finsternis – die einerseits auf eine hellenis­tisch inkulturierte Christologie zurückgeht und andererseits die mitteleuropäische dun­kle, kalte Winterzeit kontrastiert.  »Es ist ein Ros entsprungen« enthält in kom­primierter, dichterischer Form die theologi­schen Bezüge des Weihnachtsfestes und ver­dichtet sie zu einem Ganzen. Es vermag durch die Bildsprache Mariologie und Christologie zu verquicken und bildet damit Volksfröm­migkeit ab; gleichzeitig vermittelt diese Bilderwelt des Sinnlich-Zarten eine emotional einladende Gottesvorstellung. Trotz der Viel­falt der Bezüge ist das Lied kein Sammelsu­rium, sondern ein Beispiel, wie volkstümliche Traditionsbildung christliche Inkulturation geleistet hat.
Wollte man streng philologisch argumentie­ren, so könnte man von falschem Zitieren sprechen: Jesaja sprach nicht von einer Rose, auch die Jungfräulichkeit war für ihn nicht von Interesse. Durch die Veränderung der Motive entsteht aber genau diese Inkultura­tion. Sie steht im Dienste des Bemühens, Glauben im Lichte einer neuen Erfahrung, aber mit traditionell gebrauchten und zu­gänglichen Bildern auszudrücken. Es spricht die menschlichen Sehnsüchte nach Hoffnung und Erlösung von Sünd und Tod an und ver­mittelt durch die musikalische Gestaltung und die Bildsprache das Tröstliche der Ver­heissung ganz sinnenhaft.
Heute erklingt das Lied schon lange vor der eigentlichen Weihnachtszeit als Hintergrund­musik in den postmodernen Konsumtem­peln. Seine Schönheit und sein Reichtum werden kaum noch wahrgenommen. Die Sehnsucht nach Erlösung ist geblieben; wie auch das Verlangen nach einer religiösen Sprache, die in der Tradition verwurzelt ist und dennoch Erfahrungen auszudrücken vermag.

Der Beitrag ist zuerst in nahezu unveränderter Form in den Katechetischen Blättern (KatBl 130 (2005), 421-426) erschienen

Literatur

  • Bovon, Francois, Das Evangelium nach Lukas. Lk 1,1-9,50 (EKK 3/1), Neukirchen-Vluyn 1989.
  • Ernst, Josef, Das Evangelium nach Lukas, Re­gensburg 1993.
  • Koch, Klaus, Die Profeten I. Assyrische Zeit, Stuttgart 1978.
  • Weber-Kellermann, Ingeborg, Das Buch der Weihnachtslieder, Mainz 1982.
  • Wildberger, Hans, Jesaja 1-12 (BKAT 10/1), Neukirchen-Vluyn 1972.