Mit dem Rausschmiss aus dem Garten in Eden beginnt für die biblische Menschheit eine unendliche Geschichte von Vertreibung und Neuanfang, vom Ringen um Identität als Mensch und als Volk, von Fremdsein und Umgang mit Fremden.

Ein paar Stationen dieser Geschichte:

Gen 1-9

Hier werden die anthropologischen Grundkonstanten des Menschseins beschrieben. Fremdsein gehört fast von Anfang an dazu. Und zwar in beiden Bedeutungen von sich selbst fremd fühlen und von der Begegnung mit Fremden/Fremdem. So im Einzelnen:

  • Im Garten in Eden essen die Menschen vom Baum der Erkenntnis. Danach merken sie, dass sie nackt sind und bedecken ihre Blösse mit Blättern. Die Frucht vom Baum bringt also zuallererst Selbsterkenntnis in dem Sinne, dass die eigene Blösse erkannt wird und damit Scham vor dem Blick der anderen. Damit wird es erst möglich, sich selbst fremd zu fühlen und andere als Fremde wahrzunehmen.
  • Die Menschen heissen auf Hebräisch adamdenn sie sind aus adama (Ackererde) geknetet. ‘Mensch’ heisst also so viel wie ‘Erdling’. In der Urgeschichte wird nach dem nur-guten Anfang (Gen 1-2) eine fortlaufende Entfremdung zwischen dem Erdling und der Erde berichtet:
    • In Gen 3,17 sagt Gott zum männlichen Menschen nach dem Essen der verbotenen Frucht: «Weil du auf die Stimme deiner Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem ich dir geboten hatte: Du sollst nicht davon essen!: Verflucht ist der Erdboden (adama)um deinetwillen, mit Mühsal wirst du dich von ihm nähren dein Leben lang.»
    • In Gen 4,11-12 sagt Gott zu Kain nach dem Mord an Abel: «Und nun – verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden (adama), der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden (adama)bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und heimatlos sollst du auf Erden sein.»
    • In Gen 6,7 sagt Gott zu sich selbst vor der Flut: «Ich will den Menschen, den ich geschaffen habe, vom Erdboden (adama)vertilgen, den Menschen samt dem Vieh, den Kriechtieren und den Vögeln des Himmels, denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.»
  • Zu jeder dieser Entfremdungsstufen von adam (Erdling) weg von adama(Ackererde) gehört auch ein physisches Fremdwerden der Menschen:
    • Gen 3: Vertreibung aus dem Paradies. Die Frau und der Mann müssen ein neues Leben anfangen an einem unbekannten Ort.
    • Gen 4,14: Vertreibung von Kain aus der Heimat. Er muss ein neues Leben anfangen in einem fremden Land. Die Furcht vor Fremden klingt aus seiner Sorge «Sieh, du hast mich heute vom Ackerboden vertrieben, und vor dir muss ich mich verbergen. Rastlos und heimatlos muss ich sein auf Erden, und jeder, der mich trifft, kann mich erschlagen.»
    • Gen 6-9: Nachdem fast alles Leben auf der Erde in der Flut vernichtet wurde, müssen Noah und seine Familie in einer nun fremden Welt neu anfangen.

Gen 11

Die «Sprachenverwirrung» in Folge des Turmbaus bringt einerseits Vielfalt, andererseits erschwert sie die Verständigung der Menschen untereinander. Einander nicht verstehen, einander fremd sein, gehört zum Menschsein – auch nach der Urgeschichte.

Gen 11-50

Hier geht es um den Ursprung des Volkes Israel. Nicht um den historischen Ursprung, sondern um die Geschichten, die dieses Volk sich rückblickend von sich selbst erzählt. Damit zeigen die Geschichten einiges vom gewählten Selbstverständnis, darin spielt Fremdsein wiederholt eine grosse Rolle. Ein paar Fixpunkte:

  • Gen 12,1-4 (sog. ‘Berufung Abrahams’): «… Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.» (V1) Als Beginn der eigentlichen Volksgeschichte wird das erste Erzelternpaar in die Fremde geführt.
  • Gen 12,10-20: Kaum in Kanaan angekommen flieht Abraham mit den Seinen vor einer Hungersnot. Sie finden Zuflucht in Ägypten. Obwohl Abraham den Pharao betrügt, zeigt sich der Fremde ihm gegenüber sehr grosszügig. Hungersnöte werden auch später des Öfteren als Grund für die Flucht in ein anderes Land angegeben, so z.B. besonders ausführlich in der Josef-Novelle, Gen 37-50.

Exodus bis Deuteronomium

Die Fremdheitsgeschichte par excellence ist am Beginn des Buches Exodus festgehalten. Fremdenangst ist das Hauptmotiv für die Unterdrückung der Hebräer in Ägypten (Ex 1). Gott präsentiert sich als Gott der Befreiung. Diese Erfahrung des eigenen Fremdseins bleibt bis in die Gebote hinein stets präsent. Einige Beispiele zum Umgang mit Fremden:

  • Ex 23,9: «Einen Fremden sollst du nicht quälen. Denn ihr wisst, wie dem Fremden zumute ist, seid ihr doch selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.»
  • Lev 19,34: «Wie ein Einheimischer soll euch der Fremde gelten, der bei euch lebt. Und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten. Ich bin JHWH, euer Gott.»
  • Dtn 10,18-19: «der der Waise und der Witwe Recht verschafft und den Fremden liebt, so dass er ihm Brot und Kleidung gibt. Auch ihr sollt den Fremden lieben; denn ihr seid selbst Fremde gewesen im Land Ägypten.»

Auch gelten für die Fremden (zumindest diejenigen, die sich als ‘Schutzbürger’ im Land aufhalten) dieselben Regeln, wie für die Israeliten, z.B.:

  • Ex 12,49: «Ein und dieselbe Weisung gilt für den Einheimischen und für den Fremden, der in eurer Mitte weilt.»
  • Ex 20,10: «der siebte Tag aber ist ein Sabbat für JHWH, deinen Gott. Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter, dein Knecht oder deine Magd noch dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren.»

Fremdsein in dieser Welt / in diesem Land, ist für das Volk Israel auch eine theologische Konstante. Das Land ist nur von Gott geliehen:

  • Lev 25,23: «Das Land aber darf nicht für immer verkauft werden, denn das Land gehört mir, und ihr seid Fremde und Beisassen bei mir.»

Fremdenfeindlichkeit

Was oben zum Umgang mit Fremden gesagt wurde, ist natürlich nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite gibt es im Alten Testament auch viele Erzählungen, die einen ganz anderen Umgang mit Fremden zeigen, nämlich Krieg und Mord. Die Bibel kennt also durchaus auch die Schwierigkeit des Zusammenlebens, die Grenzkonflikte, die Machtkämpfe, Ängste, Brutalität etc. Fremdenfeindlichkeit im engeren Sinne ist z.B. ein Thema bei Ezra und Nehemia, die gemischte Ehen verurteilen. Hier kann das Buch Ruth als eine Gegengeschichte gelesen werden.

Dies ist der zweite Teil einer dreiteiligen Serie. Im nächsten Beitrag wird der Fokus auf die neutestamentlichen Narrationen gelegt.