Nach den alttestamentlichen Perikopen und ihren Grundlegungen widmet sich Moni Egger nun den grossen Schlaglichtern der neutestamentlichen Erfahrungswelt von Fremdheit:

Fremdheit in den Evangelien

  • Mt 1 nimmt im Stammbaum von Jesus zwei «fremde Frauen» auf. Eine davon ist Ruth, die aus Moab stammt – einem der grössten Feinde Israels. Die andere ist Rahab (vgl. Jos 2). Rahab stammt aus dem Stadtstaat Jericho. Sie hat die israelitischen Spione vor ihrem eigenen König versteckt und sich zu JHWH bekannt. Als Dank dafür wird sie bei der Einnahme und Zerstörung Jerichos samt ihrer Familie verschont.
  • Bei Mt 2 geht die Fremdheitserfahrung weiter, Josef, Maria und Jesus fliehen vor König Herodes nach Ägypten in die Fremde.
  • Mt 15 / Mk 7 / Lk 16 erzählen, dass Jesus selbst im Umgang mit Fremden Offenheit lernen muss. Zuerst will er der kanaanäischen Frau nicht helfen, weil sie eine Fremde ist. Mt 15,24: «Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.» Die Frau kann ihn aber überzeugen und umstimmen.
  • Besonders häufig wird im Zusammenhang mit «Fremdheit» Mt 25 zitiert: «Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen.» Hier klingen deutlich die Gebote zum Umgang mit Fremden aus dem AT an.

Apostelgeschichte

  • Das Pfingstereignis in Apg 2 beschreibt die multikulturelle Situation im Jerusalem des ersten Jahrhunderts. Immer schon war der sog. ‘fruchtbare Halbmond’ ein Schmelztiegel verschiedener Kulturen. (Das zeigt sich nur schon daran, dass die Bibel in drei Sprachen verfasst ist – Hebräisch, Aramäisch, Griechisch). In Apg 2 wird deutlich, dass angesichts einer Be’geist’erung Verständigung jenseits sprachlicher und kultureller Grenzen möglich ist.
  • In den weiteren Kapiteln geht es unter anderem um die Selbstdefinition der Christusgläubigen gegenüber den anderen Jüdinnen und Juden sowie gegenüber den sog. Heiden, also nichtjüdischen Menschen. Zugehörigkeitsfragen und -kennzeichen werden wichtig: Können Nichtjuden zu Christus gehören? Wenn ja, müssen sie zuerst jüdisch werden, sich also beschneiden lassen? Müssen sie sich an die Speisegebote halten? Nach langem Ringen wird die erste Frage mit ja beantwortet, die anderen mit nein. Der Apostel Paulus wird das Ergebnis des sogenannten Apostelkonzils etwas anders darstellen. Für ihn gilt es die universale Evangeliumsverkündigung frei vom Gesetz durchzuführen. Der Prüfstein ist die Botschaft Gottes und nicht die Ethnie.
  • Stellen wie Apg 6,1 zeigen, dass es in den ersten christusgläubigen Gemeinschaften durchaus auch ethnische Spannungen gab. Hier beklagen sich die griechischen Mitglieder, dass die hebräischen Witwen gegenüber den griechischen bevorzugt würden.

Erster Petrusbrief und Offenbarung des Johannes

Die beiden neutestamentlichen Spätschriften zeigen besonders deutlich die Situation der frühen christlichen Gemeinschaften in der griechischen Welt. In in 1Petr 1,1 werden sie angesprochen als «auserwählte Fremdlinge, die verstreut wohnen». Das Christentum befindet sich in einer soziokulturellen Umgebung, die nicht mit Freuden und Verständnis auf die entstehende Ekklesia schaut. Der etablierte Kaiserkult erfordert von den Bewohnern des Imperium Romanums mehr als nur politische Folgschaft. Der Monotheismus ist mit der Verehrung eines Staatsoberhaupts als Gott unvereinbar und führt für die Christen in die soziale Fremde. Die Johannesoffenbarung hält daher die Hoffnung auf eine Vollendung der Welt durch Gott fest. Wenn dieser neue Äon eintrifft, so die Offenbarung, dann wird Gott eine neue Welt errichten. Dann geht hier die Geschichte der fremden Menschen weiter. Nicht das Vertraute bringt das Reich Gottes, sondern das Fremde. Zugleich wird damit die innerste Sehnsucht des Menschen nach einer unmittelbaren Gottesbeziehung aufgegriffen. Im himmlischen Jerusalem wird Gott selbst mitten unter den Menschen wohnen und aus der Fremde wird ewige Heimat (vgl. Offb 21.22).