Dieser Artikel wurde erstmals auf religion.ch am 8. März 2022 veröffentlicht.

Die offenen Angebote der Kirchen und die Jugendverbände stehen allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von der Religion/Konfession ihrer Eltern/Bezugspersonen offen und orientieren sich an den Interessen und Bedürfnissen der Heranwachsenden. Theologisch lassen sie sich leicht verorten: Sie gehören zum diakonischen Engagement der Kirche. Es geht nicht um die Weitergabe des Glaubens oder den Fortbestand der Kirchen. Aus einer christlichen Haltung heraus werden Kinder und Jugendliche «als absichtsloser Dienst der Kirche an der Jugend» gefördert, Gestaltungsräume geschaffen und sinnvolle Freizeitangebote zur Verfügung gestellt. Die Angebote unterscheiden sich unwesentlich von der nicht-kirchlich getragenen Kinder- und Jugendarbeit oder einer «konfessionsneutralen» Ortsgruppe eines Jugendverbandes. Eine Differenz besteht darin, dass innerhalb der Kirchen eine zusätzliche Deutungsebene besteht, etwa indem Offene Jugendarbeit als Diakonie verstanden wird. 

DIE AKTEUR:INNEN IN DER OFFENEN KINDER-
UND JUGENDARBEIT VOR ORT
KOMMUNIZIEREN DIE VERBINDUNG ZU DEN
KIRCHEN SELTEN OFFENSIV. DIES IST VERSTÄNDLICH,
DA DIE VERBINDUNG JE NACH
KONTEXT EIN REPUTATIONSRISIKO DARSTELLT.

Einer breiteren Öffentlichkeit scheinen Umfang und Ausrichtung der kirchlichen Kinder- und Jugendförderung wenig bekannt zu sein. Dies ist erstaunlich, da in der Deutschschweiz jedes fünfte Angebot der Offenen Kinder- und Jugendarbeit von den Landeskirchen (mit)getragen wird und die Mehrheit der Ortsgruppen der Kinder- und Jugendverbände konfessionelle respektive christliche Bezüge haben. Die Akteur:innen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit vor Ort kommunizieren die Verbindung zu den Kirchen selten offensiv. Dies ist verständlich, da die Verbindung je nach Kontext ein Reputationsrisiko darstellt.

Einst jugendkultureller Kristallisationspunkt

Bis zu Beginn der 1970er-Jahre gehörten mehr als 95 Prozent der Wohnbevölkerung in der Schweiz einer Landeskirche an, rund 60 Prozent der Einwohner:innen den reformierten Kirchen. Die katholische Kirche begann in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eigene, damals sehr moderne Jugendverbände aufzubauen. Zuerst in Abgrenzung zur reformierten Mehrheitsgesellschaft und ab Mitte der 1930er-Jahre zusätzlich als Abwehr einer möglichen faschistischen Kinder- und Jugenderfassung. Da die katholischen Jugendlichen aktiv in den katholischen Verbänden organisiert wurden, sammelten sich die reformierten Jugendlichen mehrheitlich in konfessionsneutralen Verbänden. Eine spezielle Rolle nimmt der CEVI Schweiz ein, der sich selbst als überkonfessionell-christlich versteht, traditionell aber im reformierten Bereich beheimatet ist.

In den 1960er-Jahren gerieten alle Verbände durch die sozialen Umwälzungen und kulturellen Umbrüche in eine tiefe Krise. Wenige Jugendverbände mit religiös-konfessionellen Bezügen konnten sich den veränderten Realitäten anpassen und sind bis heute aktiv: Jungwacht Blauring (aktuell 33‘000 Mitglieder), CEVI Schweiz (aktuell 13‘000 Mitglieder) und der Verband kath. Pfadi/VKP als Unterverband der Pfadibewegung Schweiz (aktuell 10‘000 Mitglieder).

ER ENTWICKELTE SICH ZU EINEM
JUGENDKULTURELLEN KRISTALLISATIONSPUNKT
MIT FILMABENDEN, KONZERTEN UND DISKUSSIONSRUNDEN
UND ZU EINEM ORT,
AN DEM SICH JUGENDLICHE OHNE «STÖRUNG»
DURCH DIE ERWACHSENENGESELLSCHAFT TREFFEN KONNTEN. 

Die katholische Kirche öffnete sich im Nachgang des Zweiten Vatikanischen Konzils und wurde in den frühen 1970er-Jahren in der Deutschschweiz zur Pionierin der Offenen Jugendarbeit. Auch die reformierten Kirchen begannen, sich aktiver im ausserschulischen Bereich zu engagieren. Der neue Freiraum wurde von den 16- bis über 20-Jährigen intensiv genutzt. Er entwickelte sich zu einem jugendkulturellen Kristallisationspunkt mit Filmabenden, Konzerten und Diskussionsrunden und zu einem Ort, an dem sich Jugendliche ohne «Störung» durch die Erwachsenengesellschaft treffen konnten. 

Neue Konkurrenz

Durch die gesellschaftlichen Schockwellen der Jugendunruhen (Zürcher Bewegung) anfangs der 1980er-Jahren wurde die Jugendpolitik zu einem öffentlichen Thema. In der Folge schufen zahlreiche Städte und grössere Gemeinden eigene Angebote der Offenen Jugendarbeit. Im selben Jahrzehnt emanzipierte sich die Populärkultur und wurde zum Mainstream. Der Freizeitbereich wurde von neuen Akteur:innen bearbeitet, was zu einer Vervielfachung der Konsum-, Sport- und Unterhaltungsmöglichkeiten führte. Durch diese Konkurrenz verlor die Offene Jugendarbeit Alleinstellungsmerkmale und an Attraktivität für die über 16-Jährigen: In den frühen 1990er-Jahren vollzog sich der Exodus der über 18-Jährigen aus der Offenen Jugendarbeit. Dass an ihre Stelle die Oberstufenschüler:innen traten, die bisher nicht zur Hauptzielgruppe zählten, machte diese Zeitenwende weniger augenfällig. Zeitgleich entstanden die ersten offenen Angebote, die sich an Kinder richteten – auch hier waren die Landeskirchen unter den Pionier:innen (z.B. Kinderhexe der kath. Kirche in Bern).

Mit Ausnahme der grossen Jugendkulturhäuser frequentieren heute kaum über 16/17-Jährige die Offene Jugendarbeit, unabhängig davon, ob diese von den Kirchen oder einer Gemeinde getragen wird: Der Altersdurchschnitt der Besucher:innen liegt aktuell bei 13/14 Jahren. Etwas mehr als 10 Prozent aller Jugendlichen dieser Altersgruppe nutzen zumindest gelegentlich offene Angebote. Junge Frauen sowie Jugendliche aus der Mittel- und Oberschicht und aus bildungsnahen Milieus sind in der Regel untervertreten. Diese Ungleichverteilung scheint in den Angeboten der Kirchen etwas weniger ausgeprägt zu sein.

Du bist religiös? Ziemlich schräg ...

In den letzten 50 Jahren ist die gesellschaftliche Bedeutung der Landeskirchen massiv zurückgegangen. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist eine gemässigte konfessionelle Religiosität nicht mehr die gesellschaftliche Normalposition, sondern ein diffuser Glaube an eine höhere Macht. Die Religion soll weder den Konsum einschränken noch Einfluss auf persönliche Entscheide haben. Alle Positionen, welche über diese gesellschaftlich tolerierte Minimumreligion hinausgehen, müssen begründet werden.

IN DEN ANDEREN FÄLLEN WIRD EINE
EXPLIZITE RELIGIONSAUSÜBUNG UND/ODER
ZUGEHÖRIGKEIT ZU EINER GLAUBENSGEMEINSCHAFT,
ZUMINDEST IN JUNGEN UND EHER URBANEN MILIEUS,
ALS «ZIEMLICH SCHRÄG» BEURTEILT.

Eine Ausnahme in dieser Begründungspflicht sind ethnisch-religiöse Zuschreibungen, in denen die Religionszugehörigkeit und -ausübung über die Herkunft konstruiert wird (z.B. sie/er gehört der Religionsgemeinschaft Y, weil er/sie resp. ihre/seine Eltern aus X stammen). In den anderen Fällen wird eine explizite Religionsausübung und/oder Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, zumindest in jungen und eher urbanen Milieus, als «ziemlich schräg» beurteilt. 

In den letzten Jahrzehnten gelingt es den Landeskirchen innerhalb der «gesellschaftlichen Grosswetterlage» nur noch mit mässigem Erfolg, die nachkommenden Generationen kirchlich-konfessionell zu binden – dies trotz hohem Engagement der Personen, die in diesem Bereich aktiv sind. Die Angst vor dem Mitglieder- und Bedeutungsverlust darf nicht Motivation der Kirchen sein, Kinder und Jugendliche ausserschulisch zu fördern – das wäre weder ehrlich, noch würde es funktionieren. Paradoxerweise sind aber oft positive Erfahrungen in den kirchlichen Jugendverbänden ausschlaggebend, Kirchenmitglied zu bleiben oder sich kirchlich zu engagieren. 

Jugendverbände sind wieder im Trend

Warum die Teilnehmendenzahlen nach einer längeren Periode des leichten Schrumpfens in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen sind, ist schwer zu erklären. Was aber klar ist: An keinem gesellschaftlichen Ort wird 16- bis 20-Jährigen ähnlich viel Verantwortung übertragen wie den Jugendverbandsleiter:innen.

Die Teilnehmenden, und noch ausgeprägter die Leitenden der Jugendverbände, stammen tendenziell aus bildungsnahen Milieus – und oft waren schon ihre Eltern in der Verbandsarbeit engagiert. Seit Jahren werden von den Verbandsleitungen Anstrengungen unternommen, die Zugänglichkeit der Verbände besonders für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund zu erhöhen.

Zeit für ein Revival?

So paradox es klingen mag: Trotz – oder vielleicht sogar dank – des gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes haben die Landeskirchen heute die Chance, erneut in der Jugendarbeit eine Pionier:innen-Rolle einzunehmen. Der Gestaltungsraum der Kirchen ist gross; grösser als jener der politischen Gemeinden. Es entspräche der DNA der Kirchen, vermehrt diakonische Angebote für benachteiligte Jugendliche zu machen, um ihre soziale Inklusion zu fördern. Zusätzlich haben Kirchen Zugang zu ungewöhnlichen Ressourcen: Etwa Immobilien, die für Zwischennutzungen verwendet werden können. Oder die ehemaligen Leitenden der Jugendverbände, die gegen Bezahlung für Jugendliche im Oberstufenalter attraktive Jugendkultur- und Freizeitangebote anbieten könnten. Die Kirchen profitierten so vom Know-how, der Vernetzung und der lebensweltlichen Nähe zur Zielgruppe und böten im Gegenzug eine, besonders für Studierende, attraktive Nebenerwerbsmöglichkeit. Neben der Offenheit für Innovation ist es für ein kirchliches Jugendarbeits-Revival Voraussetzung, dass die kirchliche Kinder- und Jugendförderung als Priorität mit klaren Zielsetzungen erkannt, top-down unterstützt und mit den entsprechenden Ressourcen ausgestattet wird – und die Akteur:innen die Wertschätzung erfahren, die ihrer Arbeit entspricht.

Veröffentlicht auf reli.ch am 10. April 2024

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