Bitte nicht mogeln, wenn es um die Bibel geht!
Vor allem bei Kinderbibeln, aber auch bei gewissen Lehrmitteln oder Unterrichtshilfen, die Biblisches zum Thema machen, ist das Phänomen zu beobachten, dass gerne als biblisch verkauft wird, was nicht unbedingt biblisch ist. Der folgende Beitrag zeigt am Beispiel der biblischen Schöpfungserzählungen, warum dies problematisch ist und inwiefern es gewinnbringend ist, bibeldidaktisch bewusst zu trennen zwischen dem, was vom biblischen Text her zu entdecken ist, und dem, was man später hineinlas.
«Bibel» für Kinder um 1900
Wer um 1900 herum in den Kantonen der Bistümer Basel-Lugano und St. Gallen römisch-katholisch aufgewachsen ist, kam im Laufe der religiösen Ausbildung mit grosser Wahrscheinlichkeit mit dem Büchlein «Kurze biblische Geschichte für die untern Klassen der katholischen Volksschule» in Kontakt. Dies war ab 1890 das offizielle, von bischöflicher Seite für obligatorisch erklärte Lehrmittel, um Kenntnisse zur Bibel zu vermitteln. Über rund 20 Jahre hinweg wurde es in mehr als 20 Auflagen gedruckt. Schlägt man es auf den ersten Seiten auf, begegnet einem ein Geschichtsablauf, der durchaus biblisch wirkt: Von der «Erschaffung der Welt» geht es über «Die Erschaffung des Menschen. Das Paradies» zum «Sündenfall» weiter, von dort dann zu Kain und Abel, zur «Sündflut» und Noach etc. Schaut man genauer hin, irritiert einiges. Drei Beispiele:
(1) Wenn aus zwei Erzählungen ein Tatsachenbericht wird
Das Alte Testament beginnt wie das Neue Testament mehrgleisig. Während sich die Evangelien in vier Variationen über das Leben und die Bedeutung des Jesus von Nazareth Gedanken machen, erzählt das Buch Genesis ganz zu Beginn in zwei Variationen davon, wie die Welt wurde, wie man sie kennt (Gen 1,1–2,3; Gen 2,4–3,24).
Im genannten Lehrmittel sucht man vergeblich nach zwei Erzählungen. Die Erzählstoffe von Genesis 1–3 werden so ineinander verwoben präsentiert, dass es scheint, die Bibel enthalte nur eine Geschichte über die Anfänge. Wenn aus zwei Erzählungen eine gemacht wird, ist es nur ein kleiner Schritt, das Resultat statt als Erzählung als Tatsachenbericht zu verstehen. Dass man durch das Büchlein biblische Erzählungen bewusst als Berichte darüber, «wie es gewesen ist» verstanden haben wollte, bekräftigt das Schlusswort an die Kinder, wo es heisst (S. 90): «Auch du gehörst der katholischen Kirche an. Welches Glück für dich! Glaube alles, was sie dich lehrt! Tue alles, was sie dir befiehlt!» Auf der problematischen Prämisse, dass es bei biblischen Texten um Tatsachenberichte gehe, gründet heute nicht zuletzt das Anliegen gewisser religiöser Kreise, «Schöpfung» und «Evolution» gegeneinander auszuspielen. Eine solche Alternative war biblisch nie im Blick.
(2) Der Teufel muss noch her!
Keine der zwei Schöpfungserzählungen, die den Auftakt der Bibel bilden, erzählt davon, wie himmlische Wesen wie Engel entstanden sind. Dies ist nicht weiter tragisch, denn wie erwähnt erhebt keiner der Texte den Anspruch, umfassend zu berichten, wie es wirklich war. Als mythische Erzählungen wollen sie vielmehr mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen erzählen, «was nie geschah und immer ist» (Definition von « Mythos» nach Sallustius, 4. Jh.). Von der Kirche her hatte man ein Interesse, auch die Entstehung der Engel in die «biblische Geschichte» aufzunehmen. Hauptgrund war, dass man die Erzählung über das erste Menschenpaar als Bericht vom «Sündenfall» verstand und den Teufel bzw. Satan hinter der Schlange am Werk sah. So schien es also geboten, ihn bereits vor der Paradieserzählung einzuführen, und zwar unter dem Titel «Die Erschaffung und der Fall der Engel» (S. 12). Denn Satan, so die kirchliche, aber nicht die biblische Tradition, war der Anführer von Engeln, die sich schon vor der Vertreibung der Menschen aus dem Garten Eden gegen Gott aufgelehnt haben und daher aus dem Himmel verstossen und in die Hölle hinabgestürzt wurden. Das Lehrmittel vermittelt den Kindern, dass dies schon so in der Bibel steht. In der Folge lässt sich dann auch die Erzählung vom «Sündenfall» im Büchlein so einleiten: «Der Satan war neidisch auf das Glück der Menschen. Darum suchte er sie zur Sünde zu verführen. Er bediente sich dazu der Schlange.» (S. 13)
(3) Kain – seit jeher der Böse!
Der biblisch-hebräische Begriff für «Sünde», chattat, taucht erstmals in Genesis 4 auf, in der Erzählung über die ersten Menschenkinder Kain und Abel. Wenn man genau hinschaut, erzählt die Bibel mit der Erzählung vom Garten Eden, die Genesis 4 vorausgeht, keine Geschichte über den Satan, sondern geht damit unter anderem der Frage nach, wie die Menschen zur besonderen Fähigkeit gelangt sind, anders als alle anderen Geschöpfe zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können. Das macht den Menschen ein Stück gottgleich (vgl. Genesis 2,22: Dann sprach JHWH, Gott: Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt). Die Erzählung von Kain und Abel veranschaulicht, welche Verantwortung sich daraus für die Menschen ergibt bzw. wie herausfordernd es ist, trotz dieser Erkenntnisfähigkeit auf der Seite des Guten zu bleiben. Mit Kain steht ein Mensch im Zentrum, der von Gott ohne Erklärung eine Zurückweisung erfährt. Gott nimmt die Opfergabe Abels an, seine Opfergabe hingegen nicht. Es stellt sich die Frage, ob es Kain schafft, im Rahmen einer solchen kränkenden Zurückweisung gut zu handeln und nicht der Versuchung einer schlechten Tat zu erliegen. Trotz göttlichem Warnhinweis (Genesis 4,7) schafft er es nicht. Er lässt sich von der Sünde beherrschen, statt dass er über sie herrschen würde. Bei genauem Hinsehen merkt man somit: Eigentlich ist erst in Genesis 4 der «Sündenfall» Thema!
Das Lehrmittel von 1890 gibt den Kindern keine Chance, den Text so zu verstehen. Denn bereits wenn die beiden Brüder erzählerisch eingeführt werden, heisst es (S. 15): «Kain wurde ein Ackersmann, Abel ein Schäfer. Kain war böse, Abel dagegen gerecht.» Damit wird eine Erklärung dafür geboten, warum Gott Kains Opfergabe abgelehnt hat: Gott nimmt nur das Opfer guter Menschen an. Dass Gott in biblischen Texten rätselhaft handeln kann, darf nicht sein. Und damit geht auch die Pointe der Erzählung verloren: den menschlichen Umgang mit der neu gewonnenen Erkenntnisfähigkeit zum Thema zu machen und ein grandioses Scheitern an den Anfang zu stellen.
«Bibel» für heutige Kinder?
Wer meint, es sei klar, dass es früher solche Verdrehungen gegeben habe, dass man aber heute an einem anderen Ort stehe, täuscht sich. Ein Blick in wenige Kinderbibeln reicht, um festzustellen, dass die Schöpfungserzählungen noch immer allzu oft harmonisierend erzählt werden. Satan trifft man zum Glück nur noch selten in der Urgeschichte an, aber im Zusammenhang mit Gen 3 vom «Sündenfall» zu reden, ist noch immer beliebt. Auch Kain muss noch ab und zu als Beispiel eines grundsätzlich schlechten Menschen herhalten. Statt Kindern die Konfrontation mit einer Geschichte zuzumuten, in der Gottes Handeln ein Rätsel bleibt, wird die Bibel von manchen auch heute noch lieber umgeschrieben.
Anders als früher, als einzelne Bibellehrmittel kirchlich verpflichtend waren, stehen wir heute immerhin vor einer Vielfalt an Materialien, um Kindern Begegnungen mit biblischen Texten und Vorstellungswelten zu ermöglichen. Am einen Ort findet sich der eine, an einem anderen Ort der andere biblische Text besser nacherzählt. Doch eben: Was heisst in diesem Zusammenhang «besser»?
Kriterium «Nicht mogeln»
Biblische Texte lassen sich grundsätzlich unterschiedlich (nach-)erzählen. Die Erzählperspektive kann auch mal gewechselt werden, Inhaltliches farbiger als im Original erzählt werden. Guter Erzählkunst sind keine Grenzen gesetzt, solange ernst genommen wird, was von den biblischen Texten her inhaltlich und theologisch im Raum steht. Wenn im Text Wesentliches offenbleibt – etwa die Frage, warum Gott Kains Opfergabe nicht angenommen hat – kann ein Hinzudichten nicht nur die Textpointe zerstören, sondern auch verhindern, dass um eine solche «Leerstelle» spannende Gespräche entstehen. Texte so zu präsentieren, dass sie bereits einer traditionellen Deutung entsprechen – z. B. wenn Gen 3 als Erzählung vom «Sündenfall» wiedergegeben wird –, hindert Kinder daran, Lesetraditionen als «Tradition» wahrzunehmen und darüber nachzudenken, was Leute dazu bewegt haben mag, die Texte so zu verstehen. Hinzu kommt, dass sich Leute, denen «Traditionelles» als biblisch verkauft wurde, später häufig betrogen vorkommen, wenn sie die «Mogelpackung» entdecken. Das Risiko solcher Frustrationen zu fördern, sollte kein Ziel heutiger Bibelarbeit mit Kindern sein. Die biblischen Texte sind meist offener als es traditionelle Deutungen nahelegen. Mit Kindern gerade auch diese Offenheit zum Thema zu machen und gemeinsam mit ihnen auf Entdeckungstour zu gehen, was inhaltliche Pointen angeht, ist eine Chance, die nur packen kann, wer dem Mogeln widersteht.
Literatur
Walther, Arnold: Kurze Biblische Geschichte für die untern Klassen der katholischen Volksschule. Nach Businger-Walthers «Biblischer Geschichte», Einsiedeln 231909.