Der grössere Horizont

Vielen ist ein Glaube an Gott nicht plausibel. «Wer glaubt, lässt alle Rationalität hinter sich», hört und liest man so oder ähnlich immer wieder. Anders gesagt: Wer glaubt, entscheidet sich gegen vernünftiges Nachdenken und Wissen. Gott, das ist eine überholte Hypothese, ein Wunschbild, das seinen Dienst in der Evolution der Menschheit getan hat und nun überflüssig geworden ist. Ob Erklärung der Welt oder ein glückliches Leben – alles ist ohne Gott möglich, ja sogar besser. Wer glaubt, ist naiv, vielleicht sogar dumm.

Dass «Vernunft» und «Glaube» nur scheinbar Gegensätze sind, zeigt sich dem, der bereit ist, wissenschaftliche Beweisbarkeit nicht zu verabsolutieren. Wenn nur wahr ist, was man zählen und messen kann, dann fällt Gott tatsächlich aus – ebenso aber Liebe, Freude, Sinn, Gerechtigkeit. Denn vieles, was Menschen als «wahr» erfahren in ihrem Leben, lässt sich nach den Vorgaben neuzeitlicher Wissenschaft nicht beweisen. Naturwissenschaften erforschen das empirisch Vorfindliche. Sie können erklären, wie etwas entstanden ist, aber nicht, warum. Warum «überhaupt etwas ist, und nicht vielmehr nichts», wie eine klassische philosophische Grundfrage lautet, oder worin Menschen Sinn finden, stützt sich auf Erfahrungen und Gewissheiten ausserhalb ihres Forschungsbereiches. Wenn Vernunft aber jene Instanz ist, die definitionsgemäss nicht einfach nach Beweisen im Sinne einer empirischen Überprüfbarkeit fragt, sondern nach dem Ganzen, nach Wirklichkeit und Wahrheit, ist es gerade nicht vernünftig, diesen Horizont des Menschseins auszuklammern.

Geheimnis

Auch wer nicht religiös ist, versteht, dass «Gott» ein Wort ist, welches auf das grosse Ganze zielt. Gott ist per definitionem Geheimnis. Woher kommen wir, wohin gehen wir? Was liegt unserer Wirklichkeit zu Grunde, was ist ihr äusserster Bezugspunkt? Ein Geheimnis ist der Mensch auch sich selbst: Wer bin ich? Während Wissenschaften Rätsel lösen, halten Religionen das Geheimnis wach. Sie erklären, dass Weltwirklichkeit durch etwas «ausserhalb» ihrer selbst begründet sein muss, dass Welt und Mensch sich nicht selbst verdanken. Und dass der Mensch sich selbst nie beikommen kann, wenn er den grösseren Horizont ausblendet, in dem er steht. Religionen – obwohl in ihren Strukturen anfällig für menschliches Versagen bis hin zur Gewaltbereitschaft – halten diesen Horizont offen. Insofern sie auf Gott als das Geheimnis des Lebens verweisen, sind sie Wegweiser. Sie weisen dem Fragen und Suchen die entscheidende Richtung. Sie lassen die eigene Existenz als verdankte Existenz, eigene Freiheit als auf absolute Freiheit bezogen verstehen. Sie wirken heilsam, weil sie dazu aufrufen, Selbstbezogenheit zu überwinden. Und sie deuten das eigene Fragen und Sehnen als Anruf des Absoluten. Das Absolute bleibt unbegreifbar und unverfügbar, und deshalb im tiefsten Sinne Geheimnis. Aber es zeigt sich.

Die Türe geht auf

Ob es Gott «gibt» oder nicht, lässt sich nicht beweisen. Es hängt auch von niemandes Gefühl oder Meinung ab. Religionen sagen, dass sich das Absolute erschliesst. Das Absolute wird erkannt und erfahren, weil es sich zeigt und im eigenen Leben als wahr erweist. Nach einem personalen Gottesverständnis: Gott offenbart sich. Das heisst dann: Gott spricht. Oder: Die Augen werden einem geöffnet. Oder: Die Türe geht auf. Der Türklopfer eines alten Hauses in Südfrankreich (vgl. Bild) zeigt eine Hand, die den Anschein macht, man könnte die Türe selbst öffnen. Religionen mit ihren jahrtausendealten spirituellen Traditionen bezeugen aber übereinstimmend, dass dem nicht so ist: Die Türe öffnet sich einem. Und sie geht tatsächlich nach innen auf! Man kann nicht über Gott bestimmen, Gott nicht manipulieren. Gott selbst gibt sich zu erkennen und ermöglicht Resonanz, ja Beziehung. Der Mensch ist sich nicht selbst Antwort. Was er in sich als abgründig erfährt – sich seiner selbst nicht sicher, ungeborgen, haltlos –, diese eigene Abgründigkeit lässt sich verdecken oder verdrängen, aber nicht aus sich selbst heraus überwinden.

Beim Geheimnis Gottes bleiben

Gott ist Geheimnis. Katholischerseits hat einer der berühmtesten Theologen des 20. Jahrhunderts, Karl Rahner, daran erinnert. Sind wir, die wir von Gott sprechen und Gott bezeugen, uns dessen genügend bewusst? Selbstverständlich: Wir Christen glauben, dass Gott sich selbst gezeigt hat durch seine Menschwerdung in Jesus Christus. Durch Christus ist Beziehung «auf Augenhöhe» möglich. Der ebenfalls von Rahner inspirierte mystagogische Ansatz heutiger Verkündigung will Menschen dabei unterstützen, die Spuren Gottes im eigenen Leben zu finden, ja sich selbst im Geheimnis Gottes wiederzufinden. Aber das Geheimnis ist gross. Deshalb dürfen wir stottern und auch scheitern mit Erklärungsversuchen, gerade gegenüber sehr entschiedenen Religionskritikern. (Was nicht heisst, dass sie recht haben). Aber niemals dürfen wir von Gott klein denken oder sprechen, oder so tun, als wüssten wir alles. Es ist nicht Gott, was wir bisweilen für Gott halten. Und auf der richtigen Spur ist kaum, wer sich seiner Sache zu sicher ist. Vor allem aber erinnert uns das Sprechen von Gott als Geheimnis daran, dass es nicht nur um einen «lieben und netten», aber harmlosen Gott geht, einen Wohlfühlgott, der keine Fragen offenlässt. «Fürchte dich nicht», heisst es in der Bibel, wenn das göttliche Geheimnis sich zeigt. Gott irritiert und erschüttert auch. Gott schweigt. Solchen Erfahrungen ist ebenso Gewicht zu geben, um die Rede von Gott nicht banal erscheinen zu lassen.