Machtstrukturen und Machtmissbrauch
Sexuelle Ausbeutung erschüttert die katholische Kirche. Deshalb rufen katholische Theolog*innen am 29.Juni 2019 zur Kundgebung «Zeichen gegen Missbrauch» in Bern auf und bringen ihre Empörung zum Ausdruck: «Wir sind entsetzt, enttäuscht, verstört und wütend über die Realität in unserer Kirche». Die Schweizer Bischofskonferenz hat zudem ihre Richtlinien zur Prävention in diesem Jahr deutlich verschärft: Mit verbindlichen Schulungen und der Weisung zu Schutzkonzepten. Dies sind wichtige Schritte im Rahmen des schweizerischen Handlungsspielraums. Das innerkirchliche Aktionsbündnis «Zeichen gegen Missbrauch» richtet sich darüber hinaus an den Vatikan und fordert tiefgreifende Massnahmen zur Machtstruktur. Das rüttelt am Gerüst. Werfen wir also einen Blick auf den Risikofaktor «Macht» aus der Perspektive der Prävention.
Risiken in Machtgefällen
Beginnen wir konkret im Alltag der Kirchgemeinden, wo sexuelle Ausbeutung als Beziehungsdelikt in Machtgefällen passiert: In der (Jugend-)Seelsorge, in den soziokulturellen Angeboten für Jugendliche, in der Katechese für Kinder, im kirchlichen Begleitdienst für Menschen in Not. Ohne Beziehungsarbeit sind diese Tätigkeiten undenkbar- und zugleich bedeutet eine kirchliche Funktion immer Macht gegenüber gläubigen Menschen. Macht z.B. als moralische Instanz. Heute zwar kaum im gleichen Masse wie früher, als ein geweihter Priester weder fehl- noch kritisierbar war, weil er in den Augen Vieler seine Urteile direkt von der «Allmacht Gottes» ableitete. Doch auch heutzutage hat ein Kleriker Sonderstatus – und damit Macht. Macht entsteht jedoch auch ohne Weihe in pädagogischen oder beratenden Funktionen für Minderjährige oder hilfesuchende Erwachsene – wie in jeder Organisation mit ebensolchen Aufgaben. Nein, sexueller Missbrauch ist nicht nur ein kirchliches Problem. Risiken verorten sich überall dort, wo zwischenmenschliche Begegnung in Machtgefällen stattfindet. In der Kirche zeichnet sich darin ein äusserst dezentrales und verästeltes Risikobild, deren Lösungen zunächst wenig mit dem zentralen Vatikan zu tun haben, sondern vor Ort in der lokalen Kirchgemeinde und Region zu suchen sind. Zunächst.
Führungsvakuum an der Basis
Risikomanagement aus der organisationalen Perspektive bedeutet, konkrete Risikosituationen rund um das eigene Tätigkeitsfeld transparent und ehrlich auf den Tisch zu legen und entsprechende Mechanismen zu etablieren, diese zu gestalten, zu begrenzen und zu steuern. Risikomanagement ist damit Managementaufgabe. Die Knacknuss: Führungsaufgaben in der Kirche werden aktuell auf Gemeindeebene durch Laienbehörden ehrenamtlich gestaltet und darüber hinaus dual verortet. Es gilt für Risikofelder in der Kirche keine einfache Linienstruktur, die bis nach Rom reicht, sondern ein duales Führungssystem mit kirchenstaatlichen und diözesanen Strukturen. Kirchliche Arbeit ist auch nicht nur «Berufung von Gott», sondern konkreter, weltlicher Beruf und Arbeitsplatz. Arbeitnehmende wie Pfarrer, Katechet*in oder Jugendarbeiter*in sind darin in Gemeinden oft auf sich alleine gestellt, wenig eingebunden und als «Einzelkämpfer*innen» unterwegs. Kurzum: Aus der präventiven Perspektive mangelt es am Arbeitsplatz Kirche an präsenten Führungspersonen, welche Verantwortung für die Qualitätssicherung und das Risikomanagement vor Ort übernehmen. Zum Beispiel, indem sie ihre Arbeitnehmenden bei kleineren Fehltritten frühzeitig korrigieren und damit Schwellen für den Aufbau von Strafdelikten einbauen. Es fehlt damit auch an Unterstützung von Mitarbeitenden mit äusserst anspruchsvollen sozialen – aber auch mächtigen – Aufgaben.
Entmachtung durch Verantwortlichkeiten
Aufgrund des Führungsvakuums an der Basis ist die Kirche aus der Perspektive der Täter*innen, die ihren Arbeitsplatz immer strategisch auswählen, eine attraktive Arbeitgeberin – ein unbeobachtetes Arbeitsfeld mit wenig Korrektiv von eigenem beruflichem Fehlverhalten. Man kann darin selbst Regie führen und Aufgaben nach eigenem Gusto ausgestalten. Trotz hohem Anspruch der Kirche, selbst moralische Instanz zu sein. Eine hochrisikoreiche Kombination. Weshalb also z. B. verwahrloste Jugendliche nicht mehrmals wöchentlich für lange Seelsorgegespräche aufbieten – und darin manipulieren, wenn kein*e Vorgesetzte*r Kenntnis davon hat oder Rechenschaft einfordert? Hieraus lässt sich ein erster paradoxer Lösungsansatz punkto Machtstrukturen für die hierarchisch anmutende katholische Kirche ableiten: Es braucht aus der organisationalen Perspektive mehr Führung mit klaren Verantwortlichkeiten – also mehr formalisierte statt diffuse Macht, damit Steuerung und Qualitätssicherung vor Ort gelingt. Die wirksamste Gegenstrategie zur Manipulation ist dabei nicht erhöhte Kontrolle in einer Misstrauenskultur, wo die Alarmglocke dauernd schrillt und Menschen verängstigt und verschliesst, sondern eine starke und offene Führungs- und Teamkultur mit hohem Qualitätsanspruch. Gegenstrategie zu manipulativen Täter*innenstrategien bedeutet, konsequent Fachlichkeit und Transparenz einzufordern, weil «Berufung» oder «Status» als Antwort auf die Frage nach Qualität nicht genügt.
Schaffung von starken Teamstrukturen
Neben der Stärkung von Führungsstrukturen kann Risikoabfederung auch durch verbesserte Teamstrukturen erfolgen. Die Schaffung von Gefässen für Reflexion, Dialog und Feedback unter Katechet*innen oder Pfarrern zum Thema «Nähe und Distanz» und zu konkreten Risikosituationen etabliert jene Kultur der Transparenz und Besprechbarkeit, welche potentiellen Täter*innen in den eigenen Reihen den Aufbau von Taten erschwert. Tatpersonen fühlen sich dort wohl, wo sie Grenzen Schritt für Schritt verwischen können. Was mit subtilen Distanzverlusten beginnt, wird langsam und im Verborgenen erweitert. Täter*innen suchen und schaffen sich ihre Tatorte dort, wo das direkte Umfeld sie gewähren lässt oder wo sie sich dem Umfeld einfach entziehen können. Wenn in Teams bereits rollenunklares und unangemessenes Verhalten im Graubereich (=strafrechtlich noch nicht relevanter Bereich) offen, sachbezogen und unaufgeregt im Rahmen der alltäglichen Qualitätssicherung angesprochen und über Hierarchieebenen hinweg korrigiert wird, ist es schwieriger, die rote Linie der Sexualdelikte zielgerichtet und manipulativ zu überschreiten. Der pragmatische Weg entmachtet und befähigt zugleich; im Alltag, im Team und in direkten zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser proaktive, kircheninterne Handlungsspielraum kann und muss die Kirche unbedingt noch besser nutzen und verstärken. Und dies, ohne auf Strukturreformen im und vom Vatikan warten zu müssen (oder davon abhängig zu sein). Zunächst.
Machtbegrenzung durch Gewaltenteilung
Und was, wenn es doch geschieht? Aus der machtreflektierten Perspektive verlangt der professionelle Umgang mit Verdacht auf sexuelle Ausbeutung die konsequente Übergabe von möglichen Missbrauchsfällen an die staatliche Justiz, denn echte Gewaltenteilung bzw. unabhängige und damit unbefangene Gerichtbarkeit dienen dem Zweck der Machtbegrenzung. Es erstaunt nicht, dass Täter*innen in der Vergangenheit eine Kirche als Tätigkeitsfeld und Tatort auswählten, wenn im Ernstfall Urteile in einem geschlossenen System diskret ausfallen und zudem Loyalitätskonflikte, Befangenheit und blinde Flecken den Blick trüben. Aufdeckung bei Verdacht auf Offizialdelikte ist heute keine kircheninterne Angelegenheit mehr mit der Möglichkeit von aktiver Vertuschung. Auch dies fordert die schweizerische Bischofskonferenz klar und deutlich und will es landesweit konsequent umsetzen. Das ist bereits ein beträchtlicher Fortschritt mit starkem präventivem Signal: Es wird enger und unattraktiver für Tatpersonen in der katholischen Kirche. Zunächst leitet sich also alles logisch aus der organisationalen Perspektive ab, ist schweizweit ohne Vatikan zu lösen und umfasst die wichtigsten Bausteine der Schutzkonzepte, die auch die Fachstelle Limita empfiehlt.
Gleichwertigkeit der Geschlechter
Machtreflexion ohne den Blick auf patriarchale Strukturen und dem zeitgemässen Ziel der Gleichwertigkeit von Geschlechtern greift jedoch zu kurz. Prävention ist eng verknüpft mit dem klaren Anspruch der Antidiskriminierung von Geschlecht. Denn es gilt: Wo diskriminierende Machtgefälle zementiert werden, steigt das Risiko für sexuelle Gewalt. Und nein, auch sexuelle Gewalt an Frauen* ist nicht nur kirchliches Problem. Laut einer aktuellen repräsentativen Umfrage sind Frauen* in allen Lebensbereichen unverhältnismässig stark von sexueller Gewalt betroffen. Der Dokumentarfilm «Gottes missbrauchte Dienerinnen» zeigt jedoch den Auswuchs von männlichen Machtansprüchen in der Kirche, erschüttert und macht sprachlos. Wenn das Fundament des Vertrauens vieler Menschen in eine Organisation Risse bekommt, kann man das Haus nicht mit pragmatischen Reparaturen allein retten, sondern muss den Mut und die Demut haben, die Grundfesten zu hinterfragen und zu diskutieren. Das gilt besonders für die Führung; auch die oberste im Vatikan, dort wo das Machtkonstrukt verantwortet wird. Komplexe Reformen einer Weltorganisation geschehen jedoch nicht von heute auf morgen und keinesfalls durch den Papst allein, da viele Länder mitdiskutieren. Die erlebte Tatsache: Ein Machtgefälle verschärft Risiken und Leid von Machtmissbrauch. Die Wertfrage dazu: Ist dies das Privileg der Weihe wert? Was kann dies überhaupt aufwiegen – theologisch, organisational oder gar machttaktisch? Die Basis der Gläubigen wiegt ab und vergleicht, auch wenn es keine banale Rechnung bzw. lineare Korrelation wäre. Und verliert Vertrauen in die Kirche. In der heutigen Zeit hinterlässt es einen mehr als schalen Beigeschmack. Ein pragmatischer Lösungsweg dazu ist zudem nicht in Sicht – die Besetzung der kirchenstaatlichen Führungspositionen mit Frauen* löst das nur partiell. Diskriminierung wirkt intersektionell; dennoch ist es spekulativ zu behaupten, dass auch Missbrauch von Minderjährigen durch gleichwertige Präsenz der Frauen* in der katholischen Kirche früher hätte eingedämmt werden können. Die Auswirkung von ermächtigten Frauen* auf präventive Strukturen lässt sich nicht banal ableiten. Frauen* sind keinesfalls die besseren Menschen und selbst gefeit vor Machtmissbrauch gegenüber Schwächeren. Das zeigt z.B. der Missbrauch von Minderjährigen durch Nonnen in Kinderheimen .
Definitionsmacht über Sexualmoral
Prävention sexueller Ausbeutung stellt Menschenrechte, nicht Frauen*rechte, konsequent ins Zentrum – insbesondere die Rechte der Schwächeren. Das würde letztlich zum christlichen Fundament passen. Damit hätte die Kirche mit ihrer Tradition des karitativen Einsatzes für Schwächere viel Potential für Prävention – und sogar Vorbildfunktion. Nur: Prävention sexueller Ausbeutung fokussiert das Menschenrecht (und die Pflicht) auf Schutz der sexuellen Integrität und auf eine selbstbestimmte Sexualität – für alle. Was geschieht mit Klerikern, die sich etwas schier Unmögliches abverlangen, nämlich ihre Sexualität ohne Schaden für sich selbst (und andere) zu sublimieren, wie dies die katholische Kirche ab dem Jahr 1139 (nicht dem Jahr 0) einfordert? Einige schaffen das, andere leben ihre Bedürfnisse heimlich, empfinden Scham dabei und fühlen sich sündhaft und schwach. Was geschieht mit gläubigen Menschen, die ständig mit einem sexualmoralischen Ideal konfrontiert sind, dem sie nicht entsprechen können? Sexuelle Ausbeutung ist keine Triebtat, die einen einfach so überkommt, wenn man sexuell unbefriedigt ist, sondern es ist immer eine geplante Tat. Wo jedoch sexuelle Bedürfnisse ausgeklammert werden und in eine Tabuzone abdriften, finden Tatpersonen ein schweigendes und damit attraktives Umfeld vor. Ein pragmatischer Lösungsweg wäre, institutionalisierte Beratung und Austausch zu Sexualität für Kleriker anzubieten. Sexuelle Bedürfnisse damit besprechbar machen und als starke Energie des Lebens bejahen – trotz sexualmoralischem Konstrukt eine Sprache dafür ermöglichen. Der tiefgreifende Lösungsweg wäre, das sexualmoralische Konstrukt auf seine Umsetzbarkeit hin zu überdenken. Dafür bräuchte es definitiv den Vatikan, der die Weichenstellung für eine gemeinsame (und weltweite) Reflexion verantwortet. Zunächst.
Prävention ist «Sowohl-als-auch» statt «Entweder-oder»
Intersubjektive Konstrukte dienen immer dazu, die Kooperation von grossen Menschenmassen zu ermöglichen. Wenn ermächtigte Menschen neue verbindende Konstrukte und Gerüste finden, dann entsteht Erneuerung. Entmachtete Menschen ermächtigen und für Menschenrechte mobilisieren – das ist der tiefgreifende Weg. Ein langsamer, steiniger und visionärer, manchmal jedoch auch revolutionärer Weg. Auch wenn es ebenfalls ein begrenztes Konstrukt ist, den Menschen und zudem Individuen ins Machtzentrum des Planeten Erde zu stellen – aber diese noch tiefgreifendere Diskussion sprengt hier den Rahmen. Ist der Lösungsweg der Prävention sexueller Ausbeutung nun «pragmatisch-bescheiden» oder «visionär-tiefgreifend»? Kein «Entweder-oder», sondern ein «Sowohl-als-auch». Die Kirche braucht zwischen Pragmatismus im Hier und Jetzt und visionären Denkzetteln, zwischen sofort umsetzbaren Massnahmen und langsamen, komplexen Reformen breite, beidseitig befahrbare Brücken, um zum Schutz vor sexueller Ausbeutung an einem Strick zu ziehen. Die Zerreissprobe, welche die katholische Kirche herausfordert, kann nur durch ehrlichen Dialog zwischen Basis und Führung – mit ergebnisoffenen Schritten aufeinander zu – und mit einer starken, verbindenden Vision in einer lernenden Organisation bestanden werden. Bischof Felix Gmür meint in einem Interview auf kath.ch zum Dialog: «Wir sind auch Suchende, wie viele Frauen und Männer auch». Das ist mutig und bescheiden zugleich, lebensnah und verbindend – es wärmt mein Herz.