Missionarisch Kirche sein?
Von der Wiederkehr der Religion ist oft die Rede, aber auch davon, dass Kirche und Christentum zunehmend bedeutungslos werden. Joachim Wanke, emeritierter Bischof von Erfurt, berichtet über seine Erfahrungen und Visionen. Das Interview führte Monika Jakobs mit Herrn Bischof Wanke im Jahr 2007.
M.J.: In den letzten Jahren erlebt der Ausdruck »Mission« bzw. »Missionierung« in kirchlichen Kreisen eine Renaissance, gerade im Blick auf die säkularisierte und pluralistische Gesellschaft. Auch im Untertitel von »Zeit zur Aussaat« von 2000 heißt es: »missionarisch Kirche sein«. Ist diese Wortwahl nicht ein Einfallstor für gravierende Missverständnisse?
J.W.: Der Begriff »Mission« ist im außerreligiösen Bereich ja durchaus wieder im Kommen, im Sinne einer Neulandentdeckung oder von pionierhaftem Verhalten, wie etwa beim Wort » Weltallmission «. Mission im kirchlichen Kontext hat dagegen in der Tat oft einen indoktrinierenden Beigeschmack. Der Begriff ist aber schwer zu ersetzen und im Sinne seiner biblischen Grundlegung als Sendung« ist er unaufgebbar. Es geht um eine Präsenz des Evangeliums in der Gesellschaft, um das Bewusstsein, dass Glauben eine Innen- und eine Außenwirkung hat. Dieser Auftrag einer »Außenwirkung« kommt dort in den Blick, wo eine zunehmende Entchrisdichung eintritt. In diesem Zusammen-. hang ist es auch wichtig zu unterscheiden, welche Menschen man im Blick hat: Ungetaufte, Konvertiten, Wiedereinsteiger? Man sollte durchaus Alternativen zum Ausdruck »Mission« überlegen. Im bekannten Brief der französischen Bischöfe wurde »anbieten« gewählt, im Sinne von: Orientierung vom Glauben her anbieten. Die eigentliche Herausforderung ist letztlich eine Veränderung unseres Selbstbewusstseins als Christen.
M.J.: Was bedeutet diese Herausforderung konkret?
J.W.: Die Grundfrage ist: Wie kommt ein Mensch des 21. Jahrhunderts dazu, Erfahrungen des eigenen Lebens mit Gott in Zusammenhang zu bringen? Dafür braucht es zunächst und vordringlich Bekehrung in unseren eigenen Reihen. Ich denke gar nicht so sehr, dass wir den anderen etwas zu bringen haben. Man kann wohl Gelegenheiten zum Nachdenken schaffen, man kann Hindernisse intellektueller Art beseitigen oder etwa künstlerisch Brücken zum Evangelium hin bauen. Aber wir sind doch nur »Hebammen« für etwas, das letztendlich von Gott bewirkt wird. Die Frage ist: Wie ist überhaupt eine Wertbindung heute möglich? Man kann sagen, dass die Autonomie des Subjektes einerseits manch Positives hat. Vieles in der Gesellschaft ist nicht mehr so heuchlerisch. Wir leben ehrlicher, auch kirchlich gesehen. Das ist durchaus positiv zu sehen, auch wenn manchmal so viel Destruktion schmerzt. Auf der anderen Seite geht es aber um Werte, um menschliche Erfahrungen, die für uns alle wichtig und unaufgebbar sind. Sicher kann man menschliche Erfahrungen, auch so etwas wie Erfahrungen von »Selbsttranszendenz« (Hans Joas), sowohl säkular als auch religiös deuten. Der Nichtglaubende und ich als Glaubender erfahren die Wirklichkeit in gleicher Weise. Aber wir Glaubende beleuchten sie anders. Auf die Evidenz dieser Beleuchtung kommt es an.
M.J.: Wie kann man einen solchen Prozess fördern?
J.W.: Man muss zuerst einmal auskunftswillig sein. Das ist vergleichbar mit Alltagserfahrungen, etwa wenn jemand erzählt:» Ich habe einen schönen Urlaub gehabt. Da musst du auch mal hinfahren.« Sind wir imstande, unsere eigene Gottesbeziehung als Bereicherung anzusehen? Sind wir bereit, dies zu bezeugen? Das bedeutet nicht, dass man nur dauernd jubeln muss. Es gehört auch das gekreuzigte Leben dazu, die Bewältigung von Leid, Tod und Sterben, das Leben in seiner ganzen Breite.
M.J.: Die innerchristliche »Konkurrenz«, Freikirchen und Charismatiker, scheinen es ja besser als die etablierten Kirchen zu schaffen, das Erlebnishafte in Szene zu setzen und damit Menschen anzusprechen.
J.W.: Es braucht Erfahrungseinstiege, um das Bereichernde einer Bindung :rn Gott zu erspüren. Das kann im stillen Kämmerlein passieren, durch personale Begegnung oder durch Schicksalsschläge, durch tiefe Freude oder durch eine Überraschung. Ich plädiere nicht für ein überbordendes charismatisches Christentum, denn ein eindrückliches Erlebnis ist nicht sofort Gotteserfahrung, auch nicht immer Erfahrung von »Selbsttranszendenz«. Die Kirche muss klug überlegen, wo und wie sie sich positioniert. Wo soll sie Türen aufhalten? Wie sieht das Gewand aus, in das ein skeptischer Zeitgenosse hineinschlüpfen kann? Wir müssen die Orte entdecken, an denen sich das Reich Gottes heute ereignet. Es gibt Punkte im Leben, wo Menschen sehr empfänglich sind: Die Geburt des ersten Kindes ist oftmals ein Anlass, sich wieder neu zu besinnen und vielleicht sogar eine religiöse Lebensdeutung anzunehmen. Oder eben Erfahrungen von Leid und Lebenskrisen.
M.J.: Die Religiosität zeigt sich heute als individualisierte, als private Überzeugung, die niemanden etwas angeht. Wie viel Gemeinschaftsbildung ist für den Glauben notwendig und möglich?
J.W.: In der DDR-Zeit hatten wir eine Art kirchlicher »Schulterschlussgemeinschaft«. Wir konnten ein starkes familiäres Gemeindebewusstsein ausbilden. Jetzt sind wir in einer offenen Marktsituation, in der auch der Bezug zur Gemeinde lockerer wird. Vielleicht müssen wir, überspitzt gesagt, noch lernen, dass katholische Christenexistenz nicht unmittelbar Gemeinderomantik braucht. Das Christentum lebt natürlich von der Gemeinschaft, aber die Formen kirchlicher Gemeinschaft werden sich in Zukunft stark verändern, wahrscheinlich weitmaschiger und großräumiger werden und ganz neue Formen von Kommunikation und Zusammenhalt ausprägen. Ich kenne Katholiken, die am »Gemeindekatholizismus« praktisch nicht teilnehmen. Sie würden sich nie an einem Adventsabend in der kleinen Diasporagemeinde beteiligen, aber sie fahren zweimal im Jahr in ein Bildungshaus oder zu einem christlichen Treffen einer Gemeinschaft.
M.J.: Muss denn Kirche nicht am Ort sein, ein Gesicht haben?
J.W.: Das ist eine Frage, bei der wir oftmals noch sehr ratlos sind. Aber ich glaube, die Kirche hat immer unterschiedliche »Kleider« an. Und die Kleider verändern sich immer wieder, im Zuschnitt, in der Weite.
M.J.: Wie schätzen Sie die Situation der Kinder- und Jugendkatechese ein, ganz besonders im Hinblick auf die Erstkommunion-und Firmvorbereitung?
J.W.: Es braucht eine neue Justierung zwischen Erwachsenen-und Kinderkatechese. Wir werden in Zukunft weniger Sakramente spenden. Aber die Palette des nichtsakramentalen Bereiches wird viel breiter, und Kinder werden sinnvollerweise nur dort richtig und auf Dauer nachhaltig eingeführt in die sakramentale Welt, wo sie eine christliche Praxis in ihrem Umfeld erleben, ob das die Familie ist oder etwas anderes. Wir haben hier bei uns eigene katechetische Formen entwickelt, etwa die religiösen Kinderwochen. Gerade in den Ferien ist das Interesse der Eltern an kirchlichen Angeboten groß, auch wegen des Wegbrechens von schulischen Angeboten für die Kinder. Wir leben in einem gesellschaftlich veränderten Umfeld und müssen neu buchstabieren, was Katechese heißt. Der schulische Religionsunterricht bleibt wichtig. Religionslehrerinnen und -lehrer sind sicher in gewisser Hinsicht auch Glaubenszeugen. Aber sie sind natürlich zunächst einmal schulische Wissensvermittler. Für die Katechese brauchen wir eine neue religiöse Sprachfähigkeit. Wir überlassen die Bezeugung religiöser Lebenshorizonte allzu oft sektiererischen oder fundamentalistischen Leuten. Diese Sprachfähigkeit in Glaubensdingen zu pflegen, eine angemessene und verständliche Sprache zu suchen, das ist auch eine Aufgabe der Religionspädagogik, letztlich aber aller wachen Christen.
M.J.: Manche sind enttäuscht, wenn die Katechese nicht zu einer kontinuierlichen Beteiligung führt. Aber könnte man nicht auch sagen, Katechese soll einen guten, sinnreichen » Boxenstopp« ermöglichen?
J.W.: In der Glaubensgeschichte ist es nie so gewesen, dass gute Katechese das DauerChrist-Sein garantieren konnte. Man kann es vielleicht mit der Bahn vergleichen: Wir müssen den Fahrplan aufrechterhalten und garantieren, dass immer Züge fahren. Und da gibt es Leute, die einsteigen und aussteigen. Es sind viele Haltestellen zu ermöglichen. Es gibt auch Leute, die halten sich mal kurzzeitig fest und steigen bald wieder aus oder springen ab. Das müssen wir ertragen. Aber das Angebot von Zügen muss verlässlich sein. So gesehen ist auch der » Boxenstopp« ein zutreffendes Bild für unsere derzeitige Situation.
M.J.: Sie haben über die Bedeutung der Sprachfähigkeit gesprochen. Wie kann man diese Fähigkeit fördern?
J.W.: Das setzt Empathiefähigkeit voraus. Man muss die Menschen gern haben. Man darf die Leute nicht beschimpfen oder ihnen ihre Defizite vorhalten. So etwas baut keine Brücken. Aber es ist wichtig, möglichst viele Beteiligungsmöglichkeiten an kirchlicher Praxis zu schaffen. Da sind wir noch zu einfallslos. Die Räume, in die wir einladen, sind noch zu eng. Diese weite Beteiligungsmöglichkeit betrifft natürlich auch Nichtgetaufte. Dazu ist Fingerspitzengefühl notwendig. Aber wir brauchen diese Grenzüberschreitungen. Ich bin jetzt im Advent ins größte Erfurter Warenhaus gegangen, zu einem Gesprächsabend über das Thema »Christen nur zur Weihnachtszeit?«. Da ist man schnell bei Fragen des Menschenbildes. Mit einer Volkskundlerin aus Jena habe ich schon einmal einen solchen Abend zum Thema »Schenken und Beschenktwerden « gestaltet. Es waren über hundert Leute da, davon viele, die kaum Kirchenschwellen überschreiten. Die Sprache des Glaubens muss erfahrungsgesättigt sein. Am meisten hören die Leute zu, wenn einer »ich« sagt. ich habe diese und jene Erfahrung gemacht. Das ist die Grundstruktur von Katechese. Katechese braucht natürlich auch Reflexion. Katechese sichert das Glaubensbekenntnis ab und verteidigt es, sie hat auch apologetische Elemente. Aber letztlich ist Katechese eine Einladung zu einem existenziellen »Hochseilakt«. Ein Beispiel: Wir haben jetzt in Erfurt eine sog. Kosmas-und-Damian-Liturgie gehalten. Das ist ein Angebot für Menschen, die durch die Gesundheitsindustrie zwar einigermaßen wieder saniert worden sind, aber dann mit ihrer Krankheit allein gelassen wurden. Bei dieser Liturgie ist das wichtigste Element das Zeugnis von Kranken, die über ihre Glaubenssituation berichten. Menschen sehen in ihrer Krankheit auf einmal mehr als nur ein Handicap. Krankheit wird zu einer menschlichen, zu einer religiösen Herausforderung, durch die man wachsen und reifen kann.
M.J.: Welche Rolle spielt das religiöse Wissen, die religiöse Bildung im Gesamt von Katechese?
J.W.: Wir werden hier in unserer Situation mit großen religiösen Wissenslücken konfrontiert. Leute machen beispielsweise eine Kathedralenfahrt nach Frankreich, stehen vor einem Kirchenportal und können kaum etwas mit den Bildern anfangen. Im Jahr der Bibel 2003 haben wir gesehen, dass es einen echten Nachholbedarf an religiöser Bildung gibt. Die Aktionen dieses Jahres stießen auf breites Interesse. Diesem allgemeinen Bildungsauftrag wollen wir uns als Kirche durchaus stellen. Aber Bildung im Sinne von Wissensvermittlung reicht nicht.
M.J.: Welchen guten Rat geben Sie Ihren kirchlichen Mitarbeitenden und den ehrenamtlich Engagierten in der manchmal nicht einfachen kirchlichen Situation?
J.W.: Das Gespräch fördern und dabei über Inhalte reden und nicht so sehr über Strukturen! Die Gefahr der Isolierung und des Alleinkämpferdaseins ist für Seelsorger immer gegeben. Seelsorger brauchen die Chance, einmal den Kopf über den Alltagshorizont zu heben und von oben auf die heutige Situation zu schauen. Welche geistigen und gesellschaftlichen Entwicklungen zeigen sich? Es ist ganz entscheidend, dass man nicht in den Alltagsaufgaben erstickt, sondern die eigenen Erfahrungen als Christ reflektiert. Man kann diese Situation mit der Situation eines Surfers vergleichen: Ein Surfer muss die Welle sehen, die kommt. Wenn er überrascht wird, geht er unter. Aber wenn er die Welle sieht, kann er sich auf sie einstellen und damit umgehen. Was bedeutet zum Beispiel für uns der Bevölkerungsschwund? Was sagt uns der Mangel an Finanzen? Was bedeutet die gewachsene Subjektivierung, die Auswahlmentalität der Menschen, die starke Milieubindung großer Bevölkerungsteile? Wo sehen wir Ansätze. und Neuaufbrüche im Religiösen, im Kirchlichen? Wo verändert sich etwas nur und bricht nicht ganz ab? Diese Reflexionsarbeit ist wichtig für jene, die heute in der Kirche Dienst tun. Wenn wir nicht wissen, warum uns das Christentum reich macht, dann ist alles andere Firlefanz. Gerade in ehemals stark von der Kirche geprägten Gegenden erlebe ich viel kirchliche Frustration und Müdigkeit. Natürlich gibt es tiefe Einbrüche und auch bittere Abbrüche. Doch man muss überlegen, wie wir den Weg des Glaubenszeugnisses unter veränderten Rahmenbedingungen weitergehen können. Dieser Aufgabe sollten wir uns stellen, dann wird auch die Zuversicht und der Wille zu neuer Gemeinsamkeit unter uns wachsen.
M.J.: Welche Erfahrungen entmutigen Sie, welche ermutigen Sie persönlich?
J.W.: Bitter ist die Erfahrung, dass es nahezu unüberwindliche emotionale Hindernisse für den Gottesglauben bei Menschen gibt, Vorurteile, die ganz tief eingefressen sind. Enttäuschend ist auch manches Versagen im kirchlichen Umfeld, etwa funktionärshaftes Gehabe. Entmutigend ist die Erfahrung von Resignation nach dem Motto: Es hat doch alles keinen Zweck. Sehr bereichernd ist es, wenn man Menschen zur Seite hat, mit denen man an einem Strang ziehen kann. Menschen, die nicht so schnell aufgeben, die vielmehr sagen: » Wenn der eine Weg nicht geht, dann lasst uns mal einen anderen Weg versuchen.« Was mir hilft, ist der Blick auf Menschen, die sich mit Fantasie und Fröhlichkeit einsetzen. Besonders ermutigend ist es zu erleben, dass immer wieder einzelne Menschen zum Glauben finden. Das sind keine großen Zahlen: Hier im Bistum unter hundert Erwachsenentaufen pro Jahr, aber die Tatsache solcher Erwachsenentaufen bestärkt doch sehr. Die Begegnung mit Katechumenen bereichert am meisten uns selbst. Pfarrer, die Menschen zur Erwachsenentaufe begleiten, sind oft berufsfroher als solche, die wie eine Lokomotive nur eine müde Gemeinde ziehen. Die Erfahrung, dass Gottes Geist eine Biografie verwandeln kann, erfahre ich wie ein Wunder. Gottlob, dass es solche Wunder auch heute gibt.
M.J.: Vielen Dank für das ermutigende Gespräch.