Disziplin: (K)ein Thema? – Undisziplinierte Überlegungen
In der Religionspädagogik ist Disziplin offenbar kein Thema, ganz im Gegensatz zum Boom an pädagogischer Literatur. In einschlägigen Handbüchern wird man kaum fündig. Es scheint, als hätten handlungs- und prozessorientiertes Lernen und die Vielfalt der neuen Methoden dieses Thema gänzlich überflüssig gemacht.
Auf der mehr oder weniger »heimlichen« Agenda der Schulen, der Lehrerinnen und Lehrer steht das Thema jedoch ganz weit oben: »Störungen haben den Vorrang, weil sie sich den Vorrang nehmen« (Reiser 117). In der politischen Diskussion ist das Fehlen von Disziplin in der Schule zu einem Allgemeinplatz geworden und bedient auch autoritäre und ordnungsrechtliche Begehrlichkeiten.
So wird die Stärkung der Institution Schule und die Verbesserung des Images der Lehrerinnen und Lehrer eingefordert. »Ganz sicher muss es in allen Schulen wieder zu Kopfnoten kommen, mit Eintragung der Fehlzeiten, auch auf Abschlusszeugnissen.« , heißt es da etwa (Hensel 13 ). Der Zentralsekretär des Dachverbands Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH), Urs Schildknecht, plädierte für rigorose Ausschlussmöglichkeiten renitenter Schülerinnen und Schüler: »Es kann nicht Aufgabe der Schule sein, unwillige Jugendliche mit einem unverhältnismäßig großen Aufwand der Lehrperson auf einen Minimalstandard zu trimmen.«
Der Begriff »Disziplin« schillert. Im Sinne eines Fachgebietes oder einer sportlichen Disziplin etwa impliziert er den Anspruch eines systematischen und umfassenden Wissensgebietes oder eines Handlungsfeldes, das eine gewisse Kennerschaft erfordert. Im Sinne einer systematischen Arbeitsweise bedeutet Disziplin Zucht, Ordnung, Einordnung oder Unterordnung. Disziplin hat immer etwas zu tun mit Grenzen, mit der Eindämmung von etwas, das sonst überschwappen würde, mit einem Zuviel an Energie und Dynamik; es ist die Konzentration gegenüber der Zerstreuung, das Dabeibleiben gegenüber dem Abschweifen. Disziplin hat ihre Grenze in sinnlosem Gehorsam und übertriebener Selbstzucht.
Problemanzeige: Disziplinlosigkeit
Anders als in den 197oer-Jahren ist heute nicht ein Zuviel an Disziplin und Unterordnung der Auslöser für eine Problemanzeige, sondern mangelnde oder fehlende Disziplin. Wie die obigen Statements zeigen, wird das Problem ganz deutlich bei den Schülerinnen und Schülern bzw. ihren Eltern angesiedelt. Es wird personalisiert: Es liegt am Schüler. Eine solche Personalisierung findet auch bei den Lehrpersonen statt, die in der mangelnden Disziplin ihre eigene Schwäche und Unfähigkeit bestätigt sehen: Es liegt an mir.
Wolfgang Kasper stellt dieser Betrachtungsweise eine systemische gegenüber. Der Kontext der Klasse und im weiteren des schulischen und gesellschaftlichen Umfelds wird miteinbezogen. Das ermöglicht, fehlende Disziplin anders wahrzunehmen, etwa als durchaus angemessene Problemlösung, was die Situation der Schülerlnnen angeht (etwa Befolgen impliziter Spielregeln, Langeweile etc.). Für Kasper ist fehlende Disziplin als Störung immer ein Konstrukt des Beobachters (Kasper 155).
Disziplin und Schulkultur
Pädagogische Lösungsvorschläge setzen – bei aller Unterschiedlichkeit – immer bei der Interaktion im Klassenzimmer und in der Schule sowie deren Rahmenbedingungen an. Nachhaltig ist Disziplin im Sinne von Arbeitsbereitschaft und zuträglichem sozialen Handeln nur im Rahmen von Schulentwicklung und -kultur zu lösen; dazu gehören neben Lern-, Kommunikations-, und Partizipationsformen auch die Gestaltung von Schulraum und -zeit.
Disziplin hat eine begrenzte Reichweite, wenn sie rein äußerlich bleibt. Aber auch » Disziplin als äußere Erscheinungsform einer inneren Ordnung« kann niemals ein Ziel an sich sein; sie ist immer Sekundärtugend:
» Nicht alles, was Menschen diszipliniert tun, ist deshalb schon vernünftig« (Jetter 31).
Die die Disziplin leitende Ordnung ist nicht sakrosankt. »Es versteht sich von selbst, dass die Disziplin einer Gangsterbande kein brauchbares Beispiel für die Pädagogik abgibt. Auf diese Ambivalenz von Disziplin ist häufig hingewiesen worden; sie ist per se weder gut noch schlecht, sondern nur aus dem Kontext übergeordneter Ziele zu verstehen« (Groeben 8). Dieses übergeordnete Ziel der Schule ist das Lernen. In der Schule muss es darum gehen, »dass jeder Mensch Lernen als produktive Herausforderung erfahren kann« (ebd.).
Disziplinprobleme tauchen dann auf, wenn Schülerinnen und Schüler über- oder unterbeschäftigt sind. Die Lernmöglichkeiten und -anlässe dürfen also nicht vereinheitlicht, sondern müssen vervielfältigt werden. Gefragt ist innere Differenzierung. Auch die Arbeit an konkreten Projekten, am Ernstfall und die produktive Herausforderung können ungeahnte Disziplinressourcen hervorbringen. Ein Blick auf die Jugendkultur zeigt, dass Hedonismus und eiserne Disziplin kein Widerspruch sein müssen« (Ferchhoff 3 5 ). Es gibt eine jugendkulturelle, nicht fremdgesteuerte, Spaß bereitende Disziplin beim Street-Basketball und Fußball, beim Computerspielen oder SMS-Schreiben. Die größte Herausforderung ist es, Lernen so zu gestalten, dass es als sinnvoll erlebt wird. Freie Arbeit, Vertrauen in die Kompetenz der Schülerinnen und Schüler und das Eingebundensein in eine Gruppe sind dafür unabdingbar.
Das Entscheidendste im Hinblick auf Disziplin ist die Partizipation der Schülerinnen und Schüler. Sie müssen zu Experten für ihre eigene Disziplin, ihre schulischen Regeln und Umgangsformen werden. Rolf Werming unterscheidet diesbezüglich drei Ebenen:
Disziplin in der Gestaltung der Beziehung zu Personen,
Disziplin in der Gestaltung der Beziehung zu Lerngegenständen,
Disziplin in der Gestaltung des Umgangs mit sich selbst.
Er spricht von Disziplin als einer Choreografie. Diese kann nur gelingen, wenn Schülerinnen und Schüler an der Erstellung von Regeln beteiligt sind, wenn das Gelernte lebensrelevant ist und wenn in menschenadäquaten Arbeitsformen und Zeitstrukturen gelernt werden kann.
Eine solche Erziehung zur Disziplin ist das genaue Gegenteil von dem, was Paulo Freire als Containerkonzept beschreibt. Schülerlnnen werden zu »Containern« gemacht, die von ihren Lehrerlnnen mit einer Pseudowirklichkeit gefüllt werden, die bewegungslos, abgezirkelt und voraussagbar ist (Freire 57ff). Trotz der didaktischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist Freires kritische Stimme noch nicht überholt, auch im Hinblick auf Inhalte von Religionsunterricht und Katechese.
Phantasie und Gehorsam
Angesichts der Dringlichkeit von Disziplinproblemen und der drohenden Verführung durch kurzfristige, drakonische Ordnungsmaßnahmen, die entsprechenden Gehorsam erzwingen wollen und angesichts der neomaterialkerygmatischen Versuchung in der Religionspädagogik möchte ich mit einer kurzen theologischen Überlegung abschließen.
In dem mittlerweile fast vierzig Jahre alten Büchlein »Phantasie und Gehorsam« macht Dorothee Sölle auf die problematische Verbindung von Theologie und Gehorsamshaltung aufmerksam. Diese hat in beiden Konfessionen zu einer Versteinerung geführt, die heute noch nicht vollständig aufgebrochen ist. Zu Recht weist sie darauf hin, dass die religiös geförderte Gehorsamshaltung zu den Gründen gehört, die den Nationalsozialismus ermöglicht habe. Der Gehorsam Gott gegenüber und der Gehorsam Menschen oder dem Staat gegenüber werden miteinander vermischt. Gehorsam ist aber nur dann eine sinnvolle Haltung, »wenn er in Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst geleistet wird« (Sölle 64). Erst Gehorsam in Freiheit ermöglicht sinnvolles Handeln, auch sinnvollen Verzicht. Max Frisch weist in seinem »Dienstbüchlein« darauf hin, dass Disziplin im eigentlichen Sinne Produkt von Freiwilligkeit und Selbstverantwortung sein muss. Es gibt keinen Weg zurück in die vermeintlich heile Welt des Gehorsams und der Kopfnoten. Disziplin ist in der heutigen Gesellschaft nur zu haben mit einem subjektorientierten Menschenbild und nach den Regeln eines demokratischen Gemeinwesens.
Der Beitrag ist zuerst in nahezu unveränderter Form in den Katechetischen Blättern (KatBl 124 (1999), 273-277) erschienen
Literatur
- Becker, Gerold u.a. (Hg.), Disziplin. Sinn schaffen -Rahmen geben -Konflikte bearbeiten, Seelze 2002 (Friedrich Jahresheft 20).
- Ferchhoff, Wilfried, In eigene Regie genommen. Disziplin in jugendkulturellen Szenen, in: Gerold Becker, a.a.0., 34-37.
- Freire, Paulo, Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit, Reinbek 1973.
- Groeben, Annemarie von der, Die Sache als Lehrmeister, in: Pädagogik 12/2oo3, 6-9.
- Hensel, Horst, Erziehungspolitik, in: Pädagogik 12/2oo3, 1o-13.
- Jetter, Karlheinz, Die Wunschvorstellung von der Machbarkeit des Menschen. Wege und Irrwege zur Disziplin, in: Gerold Becker, a.a.0., 1 r-3 3.
- Kasper, Wolfgang A., Disziplinprobleme, in: Iris Bosold/Peter Kliemann (Hg.), »Ach, Sie unterrichten Religion?«, Stuttgart/München 2003, 153-158.
- Reiser, Helmut, Was hinter dem Verhalten steht. Disziplin und Gruppenprozesse, in: Gerold Becker, a.a.O., 116-119.
- Schildknecht, Urs, Kann man Schüler entlassen? Maßnahmen gegen die Verwilderung im Klassenzimmer, in: NZZ Nr. 54 v. 6-3-1997, 71f.
- Sölle, Dorothee, Phantasie und Gehorsam, Stuttgart7 1976.