Lehrplan 21 und die Rolle der Kirchen
Der Lehrplan 21 sieht in Gestalt von Ethik – Religion – Gemeinschaft (ERG) vor, dass in der Volksschule religiöse Fragestellungen thematisiert und entsprechende Kompetenzen aufgebaut werden. Wird damit das Engagement der Kirchen in der Volksschule überflüssig? Wie liesse sich die Präsenz der Kirchen an der Volksschule unter diesen Umständen noch rechtfertigen?
Bildung und Religion
Viele empfinden zwischen Religion und Bildung eine Spannung. Bildung wird gleichgesetzt mit Autonomie und Rationalität. Religion wird demgegenüber Naivität, Aberglaube, Abhängigkeit und Unmündigkeit zugeschrieben. Dieses Klischee wird vor allem dann aktiviert, wenn Religion mit kirchlichen Institutionen in Verbindung gebracht wird. Diese Haltung könnte verkürzend als “Religion ja, Kirche nein” charakterisiert werden. So gibt es breite Kreise, welche die Aktivitäten der Kirchen aus der öffentlichen Schule verbannen möchten. Kirchlich gebundene Religiosität gilt ihnen als Privatsache und Kirchen stehen für sie stets im Verdacht, zu missionieren. Was ist davon zu halten?
Bildung und Wissen
Die Schule ist zweifellos ein Ort, an welchem Bildung vermittelt werden soll. Darüber sind sich alle einig. Doch was meinen wir überhaupt mit “Bildung”. Zur Bildung gehört zweifelsfrei ein gewisses Grundwissen. Wer nichts weiss, kann kaum als gebildet gelten. Doch Wissen allein ist keine Bildung, nicht einmal Klugheit. Die meisten von uns kennen Lexikon-Menschen, die ungeheuer viel wissen, mit denen sich zu unterhalten, aber nicht wirklich erbaulich ist, weil es dabei höchstens zu einen Austausch von Informationen kommt. Demgegenüber versteht der Kluge das, was er weiss; d.h. er kann die verschiedenen Aspekte und Facetten seines Wissens miteinander in Beziehung setzten und so die einzelnen Elemente wechselseitig begründen.
Sich mit Klugen zu unterhalten ist interessant und anregend. Doch gebildet muss der Kluge nicht sein. Der Gebildete versteht sein Wissen nicht nur wie es der Kluge tut, er hat es darüber hinaus in eine Beziehung zu seiner Persönlichkeit gesetzt; er hat sich daran gerieben und es hat ihn verändert. Sein Wissen und Können hat seine Erwartungen, Wünsche, Wollen und Handeln verändert und geprägt. Er versteht nicht nur die Welt und die Menschen, er ist sich auch selbst transparenter geworden. Und sein Leben gestaltet er seinen Überzeugungen und seiner Persönlichkeit entsprechend. Sich mit Gebildeten zu unterhalten ist deshalb auch nicht nur anregend, sondern bereichernd da er sich und andern nichts mehr vorspiegeln muss.
Religiöse Bildung
Das alles gilt auch für die religiöse Bildung. Der Mensch wächst in einer Froschperspektive in eine Religion hinein. Er nimmt erst – oft staunend – wahr und hält für wahr, was er wahrnimmt. In der Begegnung mit anderem und anderen relativiert sich ihm dies dann – bis hin zur Ablehnung des Erworbenen. Seine Religion und sein Verständnis von ihr versteht er nun als eines, das auch anders hätte sein können. Wenn er diesen Punkt erreicht hat, kann der anstrengende Prozess der persönlichen Aneignung, der Erarbeitung einer eigenen religiösen Position beginnen: die bewusste Entscheidung für eine religiöse Position – und das kann selbstredend auch die Ablehnung jeglicher Religion sein – , durch die der Mensch ein anderer wird.
Religiöse Bildung im Rahmen des Lehrplans 21
Der Lehrplan 21, der in den meisten Kantonen der Deutschschweiz nun eingeführt wird, sieht mit ERG (Ethik Religion Gemeinschaft) eine Form von religiöser Bildung vor. Der Intention nach handelt es sich bezüglich der religiösen Dimension dabei um Religionskunde, um Wissen über und Verstehen von Religionen. Es ist sehr zu begrüssen, dass damit die religiösen Aspekte menschlicher Kultur so Eingang finden in den Bildungskanon der Volksschule. In verschiedenen Kantonen werden die Kirchen auch im Rahmen des neuen Lehrplans noch ein aktive Rolle in der Schule spielen. Auch das ist sehr zu begrüssen. Denn die Kirchen verfügen über kompetentes Personal, welches im Verlaufe der Ausbildung zur Religionslehrperson mit der historischen Entwicklung und damit Relativität des christlichen Glaubens konfrontiert wurde. Viele werden im Rahmen dieser Ausbildung auch dementsprechend durchgeschüttelt. Doch sie bleiben nicht bei der kritischen Reflexion stehen, sondern eignen sich ihre Religion aus einer erweiterten Perspektive neu an. Aus dieser Erfahrung heraus verstehen sie es, den Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit Religion anzustossen. Dass sie sich in einer (konfessionellen) Tradition verstehen, ist hier kein Manko, sondern eine Notwendigkeit. Die so gebildeten Religionslehrpersonen haben damit die wichtigste Voraussetzung Kinder und Jugendliche auf dem Weg zur religiösen Bildung zu begleiten – denn wer würde von Ungebildeten erwarten andere zu bilden?
Da zum Prozess der Bildung die kritische Auseinandersetzung gehört, sind kirchliche Lehrpersonen auch viel eher in der Lage religiöse Bildungsprozesse zu initiieren und zu begleiten. Weil sie sich selbst mit der eigenen Tradition auseinandergesetzt haben und sich dann den Glauben neu zu eigen machten, können sie glaubhaft schwierige Seiten dieser Tradition ansprechen. Für Klassenlehrpersonen ist diese kritische Auseinandersetzung mit Religionen demgegenüber schwieriger, sind sie doch zu einer wohlwollenden, toleranten Einstellung religiöser Traditionen (auch dem Christentum) gegenüber verpflichtet. Dies lässt eine kritische Auseinandersetzung schneller als rein destruktiv erscheinen. Freilich bin ich mir bewusst, dass dies alles nicht im vollen Umfange auf alle Religionslehrpersonen zutrifft, aber eben doch auf die Mehrheit.
Der unersetzbare Beitrag der Kirchen
Religiöses Wissen ist gut und Voraussetzung für religiöse Bildung. Doch das volle sinnstiftende Potential der Religion entfaltet sich erst im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit und persönlichen Aneignung von Religion. Unsere pluralistische Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass Menschen um die “Zufälligkeit” ihrer religiösen Sozialisation wissen, sich in persönlicher Auseinandersetzung einen Standpunkt bezüglich der Religion zu eigen machen (das kann auch eine klare und bewusste Absage an Religion sein) – und anderen in Respekt und d.h. Toleranz begegnen. Deshalb ist der Beitrag der Kirchen an eine umfassende Volksschulbildung nicht nur wichtig, sondern auch nicht durch andere in ähnlicher Weise leistbar.