Lernen mit dem Körper
Den eigenen Körper wahrzunehmen, lernen nicht alle Menschen gleichermassen. Wie kann Körperwahrnehmung geschult werden? Und wie kann eine differenzierte Körperwahrnehmung im Alltag hilfreich sein?
Wahrnehmungsschulung
Wahrnehmung geschieht zu grossen Teilen unbewusst und quasi automatisch. Wir nehmen beispielsweise in der Regel die Berührung unserer Fusssohlen mit dem Schuhfutter, der Schuhsohle und dem darunterliegenden Boden nicht ständig war – das hätte eine permanente Reizüberflutung zur Folge. Durch gezielte Aufmerksamkeitsschulung kann die Wahrnehmung aber erweitert werden. Dieser Erweiterung der Wahrnehmung, bietet das Potential neue Verhaltensmuster auszuprobieren, das Verhalten zu aktualisieren und dieses zu verkörpern. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers und desjenigen des Gegenübers ist Grundlage für menschliche Kognition, Emotion und Kommunikation. In der einschlägigen Forschung wird von somatischem oder leiborientiertem Lernen/Bildung (somatic education) gesprochen. Somatische Wahrnehmung wird in der Fachliteratur in verschiedene Komponenten unterschieden: Interozeption, Exterozeption, Kinästhetik und soziale Wahrnehmung.
Interozeption meint die Wahrnehmung des inneren Zustandes verschiedener Körpergewebe – diese bleibt meistens unbewusst, ausser bei Schmerzen. Die Exterozeption meint die Aufnahme und Verarbeitung von Sinnesreizen aus der Um- und Außenwelt. Dafür zuständig sind die Sinne: Hören, Sehen, Schmecken, Riechen und Tasten. Kinästhetik bezeichnet Reize aus dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr und die propriozeptiven Rezeptoren in Muskulatur, Sehnen und Gelenken. Sie ermöglichen eine Wahrnehmung der Stellung der Gelenke, ohne dass wir den Sehsinn zu Hilfe nehmen müssen, und geben Auskunft über das Ausmass an Muskelkraft, das wir in bestimmten Bewegungen aufbringen. Abschliessend gehört auch eine soziale Wahrnehmung dazu: Der Mediziner Stephen Porges (*1945) hat beispielsweise erforscht, dass das vegetative Nervensystem einen «sozialen Aspekt» hat. Seine Forschung hat grossen Einfluss auf körperbasierte Therapie- und Begleitungsmethoden. Er differenziert drei Modi des Vagusnervs. Die ersten beiden sind für die entwicklungsgeschichtlich älteren Reaktionsmuster auf Gefahr verantwortlich, dem Totstellen und der Mobilisierung durch Angriff oder Flucht (fight – flight). Der vordere Ast des Nervus Vagus, der ventrale Vagus, fördert ein Gefühl von Sicherheit und Bindung. Eine Aktivierung des ventralen Vagus ist Voraussetzung für die Fähigkeit zu Kommunikation und sozialem Kontakt, verbunden mit Mimik und Gestik.
«Der kleine Unterschied»
Die Wahrnehmung zu differenzieren und zu schulen, hat also viele Vorteile für die Kommunikation und das eigene Selbstbild. Eine Möglichkeit, eingespielte Kreisläufe von Handlungen oder Bewegungen zu unterbrechen, besteht im Tun von etwas Neuem. Atem-, Achtsamkeits- und Bewegungsübungen lassen sich einsetzen – mit dem Ziel Stress zu reduzieren und Emotionen zu regulieren. Der propriozeptive Sinn wird wach, wenn spielerisch eine neue Sitzhaltung eingenommen wird, statt mit der linken mit der rechten Hand geschrieben wird, oder zu Beginn einer Unterrichtseinheit das Sitzen auf der Sitzfläche und die spürbaren Sitzbeinhöcker oder der Stand der Füsse auf dem Boden bewusst in die Wahrnehmung geholt werden. Neue sensorische und emotionale Erfahrungen, können auch einen neuen Blick auf die eigene Situation ermöglichen oder neue Erkenntnisse schenken.
Soziale Verantwortung
Entwicklungspsychologisch ist der Mensch stark von seinem sozialen Umfeld geprägt. Dieses wirkt sich auch auf die Körperwahrnehmung aus. So spielen beispielsweise geschlechtsspezifische Erziehungsmuster eine wesentliche Rolle im Hinblick auf die Affektregulierung oder die Wahrnehmung eigener Bedürfnisse. Während davon ausgegangen wird, dass weiblich sozialisierte Personen eine starke Zuständigkeit für Emotionen und soziale Harmonie erlernen, werden männlich sozialisierte Personen stärker zu einer Rationalität und zu Konkurrenz erzogen. So ist beispielsweise die vorherrschende Vorstellung von Männlichkeit darauf ausgelegt, dass Männer keine Schwäche oder Gefühle (ausser Wut) zeigen dürfen, dass sie Sorgen und Ängste nicht artikulieren dürfen – Männer sind nicht überfordert oder hilflos; Weinen, Schüchternheit, Angst, liebevolle oder zärtliche Gesten gehören sich nicht; Männer sind im Umgang mit anderen grundsätzlich auf Wettbewerb ausgerichtet… Diese stereotypen Vorstellungen sind Grundlage dafür, dass Männer fast dreimal mehr durch Suizid sterben als Frauen, statistisch häufiger Straftaten begehen und bei gesundheitlichen Problemen wie Herzkrankheiten medizinische Hilfe zu spät in Anspruch nehmen. Unter diese Voraussetzungen ist die Förderung von Körperwahrnehmung und das Ernst-nehmen von Körperempfindungen und Emotionen sozial von grosser Bedeutung. Somatisches Lernen bleibt somit nicht bei einem Selbstnutzen, sondern steht in engem Zusammenhang mit sozialer Verantwortung und einer christlichen Mitverantwortung für die Welt und die Schöpfung: Embodiment stärkt die Erfahrung der Verbundenheit mit und die Achtsamkeit gegenüber den Mitmenschen und der Natur.