Maria? Um Gottes Willen!
Wir steuern auf den Marienmonat Mai zu. Viele verbinden damit das Rosenkranzbeten. Überhaupt scheint Maria eher mit Volksfrömmigkeit als mit „richtiger Theologie“ assoziiert zu werden. Zu Recht oder zu Unrecht?
Und was heisst das für den Religionsunterricht? Kann und soll die Auseinandersetzung mit Maria und Marienfrömmigkeit im heutigen RU ihren Platz haben? Ein Plädoyer für „mehr Maria“ von Veronika Bachmann.
In den Lehrplänen gibt es wenig Platz für Maria. In der Praxis wird sie vor allem an Weihnachten in den Blick kommen, u. a, wenn ihre Rolle fürs Krippenspiel zu besetzen ist (sofern sich dieses noch an der Bibel orientiert). Gemäss der Wegleitung Orientierung Religion(2002), an der sich viele Deutschschweizer RU-Lehrpläne orientieren, gehört Maria zum Stoff der 5. Klasse. Unter dem Stichwort „Eine Sprache finden“ sollen das „Gegrüsset seist du Maria“ und der Rosenkranz Thema sein. Ferner wird empfohlen, anhand der Auseinandersetzung mit den Feiertagen Maria Lichtmess und Maria Himmelfahrt ein Marienfest vorzubereiten und zu feiern.
„Schon gehört von Maria?“
Mit dieser Frage thematisiert das Lehrmittel Blickpunkt 2 (Mittelstufe) Maria für das Fach „Religion und Kultur“. Kinder werden eingeladen, sich mit christlichen und islamischen Deutungen Marias (Koransure 19), mit Mariendarstellungen in der christlichen Kunst und mit Einsiedeln als bedeutendem Marienwallfahrtsort auseinanderzusetzen. Das Lehrmittel greift auf, was ich auch für einen konfessionellen RU als grundlegend erachte: Sich mit Maria (hebr. Miriam) von Nazareth, der Mutter Jesu, zu beschäftigen, heisst vor allem, sich mit Deutungen ihrer Gestalt auseinanderzusetzen. Gerade innerchristlich und innerkatholisch gibt es eine grosse Vielfalt, wie Maria als bedeutsam wahrgenommen wurde und wird. Für den konfessionellen RU ist es eine Chance, dieses Erbe ausgiebiger auszuloten zu können, um von dort her neu danach fragen zu können, welche Bedeutung Maria heute haben kann – unter anderem im Gebet, in der Liturgie oder eben im Krippenspiel.
Ein Blick zurück
Bereits die Evangelien, die Maria erstmals namentlich erwähnen, schreiben ihr unterschiedliche Rollen zu (Petersen). Bei Markus treffen Maria und ihre weiteren Kinder harsche Jesus-Worte (Mk 3,31–35). „Zur Familie zu gehören“, das unterstreicht diese Passage, misst sich nicht an Blutsverwandtschaft, sondern daran, ob man bereit ist, den Willen Gottes umzusetzen. Gemäss dem Stammbaum Jesu bei Matthäus (Mt 1) tritt Maria in die Fussstapfen der Vormütter Tamar (Gen 38), Rahab (Jos 2; 6), Rut (Buch Rut) und Batseba (2 Sam 11–12). Sie alle nehmen aus biblischer Sicht auf mehr oder weniger unkonventionelle Art eine wichtige Funktion in der Heilsgeschichte ein. Bei Lukas tritt uns eine Maria entgegen, deren starkes, tief in der antik-jüdischen Glaubenstradition verwurzeltes Vertrauen in einen Gott, der sich um die Kleinen und Unterdrückten kümmert, beeindruckt (Lk 1,46–55, sog. Magnificat). Bei Johannes wiederum treffen wir eine eher stilisierte Mutter Jesu an (Joh 2; 19), deren Name nicht einmal genannt wird.
Eine kultische Verehrung Marias ist seit der Spätantike bezeugt. Ort- und zeitgeprägt etablierten sich Gebete, Mariengesänge, Marienfeste und – seit dem 17. Jh. – eben auch die Marienmonate Mai und Oktober. An Gesangs-, Gebets- und Darstellungstraditionen lässt sich erkennen, welche Deutungen in den Vordergrund traten. Zentral wurde Maria in der Rolle der höchsten Fürsprecherin der Menschen vor Gott (vgl. den Schlussvers des „Ave Maria“, den die katholische Kirche den ansonsten biblischen Gebetsworten im 16. Jh. hinzugefügt hat). Innerkatholisch bekam die Marienfrömmigkeit im Kontext der Gegenreformation grossen Aufwind. Das Salve Regina, das seinen Platz ursprünglich im Stundengebet hatte, wurde als marianisches Kampflied beliebt (Kaspar, 226).
Maria – weibliche Seite Gottes, Verkörperung der idealen Weiblichkeit oder …?
Im Laufe der Geschichte gab es immer wieder Tendenzen, in Maria göttliche Züge und gar die weibliche Seite Gottes zu sehen. Gemäss der Theologin Elizabeth A. Johnson ist ein solches Marienbild problematisch, da damit weibliche Aspekte Gottes auf Maria ausgelagert würden, statt sie als ins Mysterium Gottes eingebunden zu verstehen. Damit werde vor allem ein verengt männlich geprägtes Gottesbild festgeschrieben (Johnson). Auch die Rolle der Fürsprecherin beurteilt sie kritisch, da Gott damit in eine Patron-Rolle gedrängt werde. Eine solche Sicht setze voraus, dass Menschen bei mächtigen Mittelsleuten wie eben Maria vorsprechen müssen, um über sie ihre Interessen bei Gott platzieren zu können. Johnsons Analyse schärft den Blick dafür, dass jede Art der Marienverehrung immer auch als Spiegel dessen dient, wie man sich die Beziehung zwischen Gott und den Menschen vorstellt. Ähnliches gilt für Geschlechternormen, die explizit oder implizit ans Marienbild geknüpft werden. Die Enzyklika Redemptoris Mater (1987) beispielsweise hält Frauen dazu an, in Maria das Modell für ihre wahre Entfaltung zu erkennen. Vorbehaltlose Hingabe der Liebe und grenzenlose Treue und unermüdlicher Einsatz gehören zu den genannten Idealen, die Frauen umsetzen sollen (RM, 46). Persönliches Wachstum misst sich hier an anderen Kriterien als an den Begabungen und Fähigkeiten individueller Knaben und Mädchen, Männer und Frauen.
Vom Magnificat bis zum Punk-Gebet der Pussy Riots: Anregungen für eine heutige Auseinandersetzung mit Maria
Wie eine Auseinandersetzung mit Maria im heutigen RU auf unterschiedlichen Stufen aussehen könnte, kann hier bloss angerissen werden.
- Alle Stufen: Für wen ist Maria wie von Bedeutung? Schülerinnen und Schüler befragen Leute in ihrem Umfeld (Gotte/Götti, Eltern, Grosseltern, …). Im Gespräch werden verschiedene Perspektiven und Frömmigkeitsformen fassbar. Kinder oder Jugendliche erleben durch die Begegnungen, dass Maria als religiöse Bezugsperson wichtig sein kann.
- Alle Stufen: Was verbindet die eigene Pfarrei mit Maria? Schülerinnen und Schüler gehen an ihrem Wohnort Spuren der Marienfrömmigkeit nach (gibt es Kirchenräume, die Maria geweiht sind? Welche Mariendarstellungen kann man entdecken? Gibt es besondere Anlässe, die Maria ins Zentrum rücken? …).
- MS/OS: Maria aus biblischer Sicht? Insbesondere das Matthäus- und das Lukasevangelium eignen sich für eine Begegnung mit biblischen Deutungen. Weiterführend kann etwa diskutiert werden, warum das Magnificat in befreiungstheologischen Kontexten grosse Bedeutung bekam.
- OS: In der Schweiz gibt es neben Einsiedeln oder Mariastein viele Marienkapellen, die als Wallfahrtsorte dienen (vgl. Maria zum Schnee auf Rigi Klösterli, Hergiswald, Luthern Bad, …). Der Geschichte einer dieser Kapellen nachzugehen und sie auch zu besuchen, kann ein Ansatzpunkt sein, um u. a. historische Aspekte der Marienfrömmigkeit zu erschliessen.
- OS: Eine Maria jenseits von Idealisierungen und Instrumentalisierungen? Die Auseinandersetzung mit kritischen Stimmen zu gewissen Mariendeutungen lässt sich mit der Frage verbinden, wo Jugendliche in heutigen Kontexten Idealisierungen und Instrumentalisierungen begegnen und wie sie sich zu Geschlechternormen verhalten. Die Frage nach alternativen Mariendeutungen kann als Anregung für die gemeinsame Gestaltung einer Marianwallfahrt dienen.
- OS: Das Punk-Gebet von Pussy Riot als politischer Akt. Nur wenigen dürfte aufgefallen sein, dass das Punkt-Gebet, das 2012 zur Inhaftierung dreier junger Russinnen geführt hat, ein Gebet an Maria war. Im Kontext der damaligen Präsidentschaftswahlen kritisierte das Kollektiv Pussy Riot im Gebet den Patriarchen der russisch-orthodoxen Kirche, einen Schulterschluss mit Wladimir Putin eingegangen zu sein. Maria solle Putin aus dem Weg räumen, so lautete die Hauptbitte. Das Kollektiv hat heftige Worte gewählt. In der Kirche betraten die Punk-Musikerinnen den Altarraum, den Frauen nicht betreten dürfen. Im RU lassen sich Auftritt und Text, Grenzen und Chancen dieser Form eines Mariengebetes diskutieren.
Maria? Um Gottes Willen ja!
Reicht es, Schülerinnen und Schülern in der 5. Klasse das Rosenkranzgebet und das Ave Maria beizubringen? Kindern und Jugendlichen eine spezifische Marienfrömmigkeit überzustülpen, wird kaum mehr funktionieren. Der RU bietet die Chance, dem theologischen Potential der Mariengestalt im Gespräch mit Menschen, Texten und Orten nachzugehen. Die Herausforderung besteht darin, Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher Stufen dafür zu gewinnen, anhand der Mariengestalt auf kreative Weise eine für heutige Kontexte heilsame Theologie mitzuentwickeln.
Literatur
Welt und Umwelt der Bibel 54/4 (2009) (Themenheft „Maria und die Familie Jesu“)
Bibel und Kirche 68/4 (2013) (Themenheft „Maria“; das Heft greift sehr weit und macht z. B. auch kirchliche Marienlieder zum Thema)
Bibel und Kirche 69/3 (2014) (Themenheft „Den Koran lesen – aber wie?“; bietet Sure 19in Übersetzung und eine Leseanleitungdazu)
Hecht, Anneliese (Hg.): Maria – Mutter Jesu (FrauenBibelArbeit; 19), Stuttgart 2007. (Vorschläge für die Arbeit mit Erwachsenen)
Johnson, E. Elizabeth: Mary of Nazareth. Friend of God and Prophet, in: America. The National Catholic Review 182/21 (2000). (Die us-amerikanische Autorin, röm.-kath. Ordensfrau und Professorin, hat 2004 mit „Truly our Sister“ eine „Theology of Mary“ veröffentlicht. Der Aufsatz aus dem Jahr 2000 vermittelt Einblicke in ihren theologischen Entwurf)
Kaspar, Peter Paul: Ein grosser Gesang. Musik in Religion und Gottesdienst, Graz 2002. (Der Autor, ein Kirchenmusiker, versteht es, die kulturhistorischen und kirchengeschichtlichen Aspekte der traditionellen Mariengesänge leicht lesbar zu erschliessen)
Petersen, Silke: Art. Maria, Mutter Jesu, in: WiBiLex. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet.
Pussy Riot: Ein Punkgebet für Freiheit. Mit einem Vorwort von Laurie Penny (Nautilus-Flugschrift), Hamburg 2012. (Sammlung mit Texten und Briefen von und über das Künstlerinnenkollektiv Pussy Riot in deutscher Sprache)