Mistköttel – ein Kettenmärchen
Kettenmärchen sind meist einfache Geschichten, die vom Reiz der Wiederholung und des Rhythmus leben. Am bekanntesten ist hierzulande wohl «De Joggeli söll go Birli schüttle».1 Sie reihen in einer immer länger werdenden Kette einzelne Handlungselemente oder Begegnungen aneinander. Damit sind sie für die Arbeit mit Kindern besonders geeignet. Nach den ersten beiden Wiederholungen haben die Kinder die Funktionsweise durchschaut und sprechen mit Begeisterung die folgenden Kettenelemente mit.
In den Unterlagen zum Zyklus 1, die als Begleitmaterial zur diesjährigen ökumenischen Fastenkampagne bereit gestellt wurden, sind zwei Kettenmärchen vorhanden: «Das Rübchen» (Russland) und "Der Mistköttel" (Palästina). Beide Geschichten erzählen auf gegensätzliche Weise davon, wie etwas Kleines Grosses bewirken kann. Im «Rübchen» ist es die kleine Maus, mit deren Hilfe letztendlich das Rübchen gezogen werden kann, nachdem schon die ganze Familie mit angepackt hat. Beim «Mistköttel» hingegen zeigt sich das Kleine von seiner verschlingenden Seite.2
Der Mistköttel
Eine Frau wünscht sich ein Kind. Dabei geht es ihr aber nicht um das Kind an sich, sondern um eine zusätzliche Arbeitskraft. «Gott, Allah, ich will jetzt ein Kind. Und wenn es auch ein Miststück wäre!», ruft sie. Im Märchen sind solche Wünsche gefährlich. Sie gehen immer in Erfüllung: «Gott, Allah, nahm den Wunsch auf, als wäre er sein eigener.» Tatsächlich bringt die Frau einige Monate später «einen Haufen Mist» zur Welt. Der wird sofort aus dem Haus gefegt – aber ein Mistköttel kullert unter einen Schrank und bleibt dort liegen. Als die Frau wieder einmal darüber klagt, dass sie ihrem Mann das Essen aufs Feld hinaus bringen muss, ruft das Miststück unter dem Schrank hervor: «Aber Mutter, gib mir das Essen. Ich will es dem Vater schon bringen.» Das Miststück bekommt Butter und sieben Laib Brot für den Vater und geht damit zum Feld. Der Vater freut sich, als er es kommen sieht: «Wie gut, dass du kommst Miststück! Und wie gut ist der Weg, den das Miststück geht. Dass das Miststück dem Vater das Essen bringt.» Aber das Misstück sagt: «Schlimm dass ich komme! Und schlimm ist der Weg den ich geh. Ich habe die Butter gegessen und alle sieben Brote. Und jetzt fress ich dich und den Ochsen und den Pflug!» Gesagt – getan. Im weiteren Verlauf der Geschichte frisst das Miststück seine ganze Verwandtschaft auf. Alle freuen sich, als sie es kommen sehen und denken, es würde ihnen helfen. Aber das Miststück frisst alle auf. Bis es am Schluss auf zwei Blinde trifft. Wie gewohnt verkündet das Miststück nichts Gutes, sondern zählt auf, wen und was es schon alles gegessen hat. «Ich frass die Butter und das Brot. Den Vater und den Ochs und den Pflug. Die Mutter und das Mehl. Die Tante und das Dach. Das Tanti und den Trog. Das Grosi und das Garn. Die Braut und den Bräutigan, das Tuch, die Ud und das ganze Festvolk noch dazu. Und jetzt fress ich euch beiden Blinden!» Aber da sagt der eine der beiden: «Gots eigentlich no? Auf gar keinen Fall!» Und die andere zückt ein Messer und schneidet dem Miststück den Bauch auf. Da kommen sie alle wieder heraus und sind gesund wie zuvor.
Machtgefühle der Kleinen
Grundsätzlich sollen Kettenmärchen vor allem Spass machen und die Sprach- und Rhythmusfreude pflegen. Beim Mistköttel aber gibt es einiges, was religionspädagogisch anschlussfähig ist, zum Beispiel zum Inhalts- und Handlungsaspekt 1A_1 im LeRUKa: Eigene Gefühle wahrnehmen, verstehen und angemessen ausdrücken.
Der Mistköttel hat eine alles verschlingende Macht. Kinder zu Beginn des Zyklus 1 kennen solche Allmachtsphantasien und geniessen das Spiel mit dem Erschrecken: «Ich fresse dich auf!», drohen sie im Spiel oder in der Wut. In einer Geschichte wie «Mistköttel» können sie dieser Grusellust nachgehen. Indem sie die Kettenteile mitsprechen probieren sie aus, wie Macht sich anfühlt. Da die Kinder in der Regel aber auch mit Vater, Mutter, Tanten und Grossmutter mitfühlen, erleben sie gleichzeitig die Ambivalenz dieses Machtgefühls. Am Ende der Geschichte sprechen die Blinden aus, was gesagt werden muss: «Gots eigentlich no? (Schweizerisch für «Du bist wohl verrückt!») Auf gar keinen Fall!» Damit rücken sie das Machtgebaren des Mistköttels an den richtigen Ort.
Kinder als eigenständige, würdige Persönlichkeiten
Ein anderer Aspekt ergibt sich, wenn die Erwachsenen im Märchen genauer betrachtet werden. Niemand von ihnen freut sich über den Mistköttel um seiner selbst Willen. Alle sehen in ihm nur eine Hilfe, einen Profit für sich selbst. Sogar der ursprüngliche Kinderwunsch der Mutter ist so begründet: «Wenn ich ein Kind hätte, dann sässe ich jetzt gemütlich daheim und das Kind würde dem Vater das Essen auf die Felder hinaus bringen!» Sie wünscht sich kein Kind um des Kindes Willen, sondern einfach als helfende Hand. Auch alle anderen Menschen, denen der Mistköttel im Lauf der Geschichte begenet, wollen lediglich seine Hilfe: beim Brotbacken, Dachdecken, Wäschewaschen, Garnspinnen, Reigentanzen.
Von diesem Gedanken her gibt es Anküpfungspunkte zu 1A_2: Eigene Bedürfnisse wahrnehmen, verstehen und ausdrücken. Die Bedürfnisse von Mistköttel werden in keinster Weise beachtet. Kaum da, soll er hinausgefegt werden, dann liegt er unbeachtet unter dem Schrank und sobald er entdeckt wird, wird er als Arbeitskraft verwendet. Seine Grundbedürfnisse werden missachtet. Als Reaktion darauf zeigt der Mistköttel einen masslosen, verschlingenden Besitzanspruch. Er kompensiert die erfahrene Vernachlässigung mit einem nicht zu sättigenden Hunger.
SuS können dies im Gespräch herausarbeiten und es lässt sich von hier der Faden spannen zum Thema der Menschenwürde: Jeder Mensch hat Würde in sich selbst, niemad darf als Mittel verwendet werden. In theologischer Sprache formuliert das der Inhalts- und Handlungsaspekt 1A_3: Die biblische Sicht der Einmaligkeit aller Menschen vor Gott verstehen, sie einordnen und für sich förderlich werden lassen.
Populistische Machtgelüste, populäre Machtblindheit
Noch eine ganz andere Ebene ist in diesem einfachen Märchen präsent. Sie wird im Zyklus 1 höchstens implizit mitschwingen, kann aber bereits in diesem jungen Alter einer Haltung der Machtkritik den Weg anbahnen. Eine explizite Thematisierung wäre im Zyklus 3 oder im Zyklus 4 denkbar, wenn das Märchen vom Mistköttel politisch verstanden wird. In unserer heutigen Zeit erleben wir – einmal mehr – den Aufstieg von Populist:innen. Sie kommen oft über reguläre demokratische Strukturen an die Macht und werden von grossen Teilen der Bevölkerung begrüsst: «Wie gut, dass du kommst, Präsident! Und wie gut ist der Weg den du gehst. Damit du uns bei xy hilfst!» In der ferneren und jüngeren Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie brandgefährlich populistische Regierungen sein können – gerade für das Volk, das sie scheinbar vertreten. Und trotzdem gibt es wieder und wieder genügend Menschen, die solche Menschen wählen und ihnen damit die Macht zu geben.3
Im Märchen sind es zwei Blinde, die das einzig Vernünftige tun. Blind wie sie sind, lassen sie sich vom Machtgebaren nicht blenden sondern stellen sich dem Verschlinger in den Weg.
Im Märchen braucht es nur einen einzigen klaren Schnitt, um die ursprünglichen Zustände wieder herzustellen. In der Realität hingegen müssen die durch Populist:innen zerstörten Institutionen erst in langer Arbeit wieder aufgebaut werden.
Bezüge zum Lehrplan gibt es in den Inhalts- und Handlungsaspekten 4B_5 Verschiedene Themen der Bibel kennen, die Relevanz für die heutige Zeit erläutern und eine eigene Haltung vertreten und 4C_2 Konkrete aktuelle ethisch relevante Fragestellungen in der Gesellschaft kennen, unter Einbezug der Bibel reflektieren und dazu eine eigene Haltung begründen.
Der geforderte biblische Bezug könnte ausgehend vom Märchen über Psalmen hergestellt werden. Passend dafür wäre Ps 12, der über die Macht der Sprache reflektiert und damit ein wichtiges Instrument des Populismus kritisiert. Zu den V4-6 schreibt Ulrike Bail: «Ein größerer Kontrast ist kaum denkbar. Nicht nur fällt GOTT den Feinden ins Wort, auch inhaltlich ist ein Kontrast zu beobachten: Den selbsternannten Herren, die aufgrund der Beherrschung der Sprache mächtig geworden sind, sind die Unterdrückten und Armen gegenübergestellt. Die Marginalisierten, die von der Sprach- und Gewaltmacht der Feinde eingekreist sind, werden befreit werden.»4