Religionen, Kultur, Ethik: ab wann überschreitet staatlicher Religionsunterricht die Religionsfreiheit?
Das Fach «Religionen, Kulturen und Ethik» (RKE) wurde mit dem Lehrplan 21 in der Primarschule und auf der Sekundarstufe eingeführt. Wie es unterrichtet werden soll, darüber gehen die Meinungen auseinander. Soll Religion nachvollzogen und erlebt werden? Oder ist das bereits eine Überschreitung der Religionsfreiheit? Christoph Stapfer spricht mit Prof. Dr. Thomas Schlag und Dr. Philipp Hetmanczyk, um den verschiedenen Standpunkten auf die Spur zu kommen.
Dieser Artikel wurde erstmals auf religion.ch am 7. November 2023 veröffentlicht.
Christoph Stapfer: Zum Einstieg möchte ich Sie direkt fragen, Herr Schlag, was ist mit diesem sogenannten «religionsbezogenen Unterricht» genau gemeint, den Sie in Ihrem Plädoyer für das Fach RKE nennen?
Thomas Schlag: Also für mich sind es zwei Dinge: erstens soll der Unterricht selbst auf Religion bezogen sein. Es soll darin nicht nur oder primär um Ethik gehen oder um Lebensgestaltung im weitesten Sinne des Wortes. In manchen anderen Ländern tritt das Fach nämlich als «Worldview Education» auf. Im Gegensatz dazu finde ich es gut, dass wir den Begriff «Religion» explizit im Fach drin haben. Der zweite Punkt betrifft den Begriff «Bezug». Schüler:innen sollen einen Bezug, eine Beziehung zu Religion haben, in eine bestimmte Nähe zum Gegenstand kommen. Insofern ist dieses «religionsbezogen» im doppelten Sinne gemeint, bezogen auf Religion und sich beziehen auf Religion.
Christoph Stapfer: Ich habe das in meiner Grundschulzeit noch anders erlebt, da hat man wirklich religiösen Unterricht gehabt. Das soll es aber auch nicht sein?
Thomas Schlag: Nein, es soll kein bekenntnisorientierter Unterricht sein. Kein Unterricht, in dem die Religiosität von Schüler:innen explizit zum Thema gemacht wird. Wenn sie eine Rolle spielt, muss man gucken, wie man damit umgeht. Aber es geht nicht darum, dass die Schüler:innen aus dem Unterricht religiöser rauskommen, als sie es vorher waren.
Christoph Stapfer: Herr Hetmanczyk, Sie vertreten hier eine etwas andere Sicht. Sie reden in Ihrem Ansatz von einem religionskundlichen Unterricht. Wo sind da die Differenzen?
Philipp Hetmanczyk: Ich denke, ein religionskundlicher Unterricht macht für sich zum Ausgangspunkt, ein nicht konfessioneller und eben nicht religiöser zu sein, weil er einen obligatorischen Schulunterricht darstellt, den alle besuchen müssen. Das ist zunächst einmal die Prämisse von religionskundlichem Unterricht. Dann würde ich sagen, die Zielsetzung eines religionskundlichen Unterrichts muss sein, Wissen über Religion zu vermitteln. Gleichzeitig soll diese Wissensvermittlung aber nicht für sich alleine stehen, sondern natürlich besteht auch das Bildungsziel, die Schüler:innen dazu anzuregen, über diese Gegenstände nachzudenken. Und am Ende soll es auch um bestimmte Werte gehen: um Respekt und Toleranz. Aber gut, auch dafür ist das Fach «Religionen, Kulturen und Ethik» nicht alleine zuständig.
Christoph Stapfer: Also zumindest auf den ersten Blick klingt es eigentlich sehr ähnlich und ich tue mich gerade schwer, überhaupt Unterschiede herauszuhören. Liegt es an mir oder sind die Unterschiede gar nicht so gross?
Philipp Hetmanczyk: Sowohl aus dem «religionsbezogenen» als auch aus dem «religionskundlichen» kann man natürlich sehr viele verschiedene Dinge machen. Das sind zunächst mal abstrakte Begriffe, und wie das letztlich im Unterricht praktiziert wird – da kann es dann schon grössere Differenzen geben, als die, die hier jetzt gerade sichtbar oder hörbar werden.
ICH FINDE, DER UNTERRICHT DARF
AUCH DAZU FÜHREN, DASS KINDER
UND JUGENDLICHE INS STAUNEN KOMMEN.
Thomas Schlag
Christoph Stapfer: Wie gelingt es nun, die Schüler:innen im Religionsunterricht abzuholen? Inwiefern ist es sinnvoll oder interessant, sich mit anderen auseinanderzusetzen? Haben Sie eine gute Lösung parat?
Thomas Schlag: Also ich erweitere Ihre Frage um den Begriff der Funktion von Religion. Man kann sich Religion religionskundlich über den Begriff der Funktion annähern. Mir ist der Begriff der Funktion oder die Annäherung an Religion über den Funktionsbegriff zu eng. Und zwar deshalb: nehmen wir ein Beispiel aus dem Unterrichtsfach Musik. Natürlich kann ich Schüler:innen eine Beethovensonate dadurch nahebringen, dass ich ihnen zeige, wie ein Klavier funktioniert. Wenn ich ihnen aber gleichzeitig nicht vorspiele, was da jetzt draus wird aus diesem Klavier und den Noten, so erschliesst sich für sie nur ein Teil des Ganzen. Der ist wichtig, weil sie zumindest verstehen sollten, wie ein Musikinstrument wie das Klavier funktioniert und was überhaupt eine Melodie ist.
Ich würde dem gerne noch eine andere Dimension zur Seite stellen. Neben der Frage nach der Funktion, würde ich mir erhoffen, dass Schüler:innen auch etwas von der Würde und vielleicht auch der Schönheit einer Religion und einer religiösen Praxis zwar nicht mitvollziehen, aber nachvollziehen können. Das ist eine Form der Annäherung an das, was Religion bedeuten könnte. Und Bedeutung ist etwas anderes als die Funktion. Ich will noch einen weiteren Begriff einbringen: Ihnen gehen jetzt wahrscheinlich die Nackenhaare hoch. Aber ich finde, der Unterricht darf auch dazu führen, dass Kinder und Jugendliche ins Staunen kommen. Wenn Schüler ein Rilke- oder Hessegedicht im Unterricht lesen und sagen, das ist toll oder grossartig, dann ärgert sich kein Mensch darüber. Komischerweise sagen alle beim Religionsthema «oh, bitte nicht staunen, es könnte zu persönlich werden.»
Philipp Hetmanczyk: Tatsächlich würde ich jetzt einhaken wollen bei deiner Allegorie zur Musik, eben um zu zeigen: Es stimmt, das Klavier versteht man zu wenig, wenn man seine Funktion erklärt, zumindest wenn das Ziel des Unterrichts sein soll, die Musikalität zu fördern. Da würde ich aber sagen, ein religionskundlicher Unterricht muss nicht die Religiosität der Schüler:innen fördern. Und dazu, dass die Schönheit oder die Würde von religiösen Praktiken nachvollzogen werden soll: auch da wäre für mich die Frage, was heisst Nachvollzug? Da würde ich ein Fragezeichen dahinter setzten und auch würde ich sagen: ein religionskundlicher Unterricht muss sich nicht nur auf die schönen Seiten von Religion beschränken. Vor allem unter den gegebenen Voraussetzungen, dass Religion auch in einer säkularen Gesellschaft natürlich ein Thema ist, das kritisch diskutiert wird und auch kritisch diskutiert werden muss. Ich denke, man müsste da aufpassen, dass wir nicht in einer rein religionsaffirmativen Perspektive reden.
DA WÜRDE ICH ABER SAGEN,
EIN RELIGIONSKUNDLICHER UNTERRICHT
MUSS NICHT DIE RELIGIOSITÄT
DER SCHÜLER:INNEN FÖRDERN.
Philipp Hetmanczyk
Thomas Schlag: Warum immer diese Vorsicht, gerade wenn es um das Religionsthema geht? Bei allem anderen wünscht man sich Emotionen, kritische Diskussionen und Interventionen – so müssen natürlich auch negative Elemente von Religionen vorkommen. Warum denn immer bei Religion diese eigenartige Vorsicht, als ob das sozusagen was Toxisches werden oder sein könnte?
Philipp Hetmanczyk: Weil wir hier die Grundvoraussetzung haben, dass es ein nicht-konfessioneller Unterricht sein soll. Aber natürlich stellt sich die Frage, was Nachvollzug bedeutet. Wenn ich Schüler:innen im Unterricht zum Meditieren anrege, um so einen Nachvollzug zu forcieren, dann ist das problematisch.
Thomas Schlag: Natürlich, ich stimme dir völlig zu. Das wäre dann aber der Mitvollzug. Mit Nachvollzug meine ich was anderes. Sie sollen eine Sensibilität dafür entwickeln, warum Menschen religiöse Praxis ausüben. Als Unterrichtsziel würde ich schon davon ausgehen, dass sie Respekt für den religiösen Vollzug anderer entwickeln sollen und das gilt zusätzlich zu den erhaltenen Informationen, neben dem Kontextwissen. Da muss ich ihnen bestimmte Hinweise geben und sie müssen sich in bestimmte Haltungen hineinversetzen. Eine Haltung zur religiösen Praxis anderer einzunehmen, könnte immer schon die Gefahr aufwerfen, dass dadurch eine eigene religiöse Haltung entsteht. Das ist aber gar nicht mein Punkt. Also mir geht es um die Sensibilität für Religion. Es geht um ein learning from, wenn man so die Mittelposition vertreten will, man soll von etwas lernen und kompetent werden in der Einordnung und in der Selbstpositionierung.
Christoph Stapfer: Aus diesen Wortmeldungen kommt bei mir an, Religion muss man erleben im Unterricht, um es – wie Sie sagen – nachvollziehen zu können. Also ich kann ja nicht verstehen, weshalb jemand ein Gebet oder einen religiösen Gesang schön findet, wenn ich den nicht erleben kann. Oder ist das schon zu weit gegriffen?
ABER ES GIBT EIN MITERLEBEN,
WAS IN FORM VON TEILHABE STATTFINDET.
ICH NEHME TEIL AN EINER BESTIMMTEN PRAXIS
UND DAS HEISST GERADE NICHT,
DASS ICH SELBST TEIL DIESER PRAXIS BIN.
Thomas Schlag
Thomas Schlag: Nehmen wir mal ein anderes Beispiel, das auch Teil des Lehrplans ist: der Besuch von religiösen Orten. Sagen wir mal, ich besuche mit Schüler:innen eine Moschee. Dann muss ich eine bestimmte Form finden, in der ich ihnen sage: Passt mal auf, hier an diesem Ort findet etwas statt, das für viele Menschen ganz wichtig ist. Und dann, wenn sie diesen Ort betreten, würde ich sagen, sie sollen ihn mal erleben. Was aber nicht heisst, dass ich mir von ihnen erhoffe, dass sie alle ins Beten «verfallen». Aber es gibt ein Miterleben, was in Form von Teilhabe stattfindet. Ich nehme teil an einer bestimmten Praxis und das heisst gerade nicht, dass ich selbst Teil dieser Praxis bin.
Christoph Stapfer: Also quasi ein passives Erleben. Könnte man das vielleicht vereinfacht so sagen? Man erlebt es quasi still, aber man nimmt zwangsläufig nicht selbst teil.
Philipp Hetmanczyk: Ich sehe das etwas anders. Tatsächlich denke ich, es kann gelungener Unterricht sein, wenn ich Schüler:innen an einen Ort begleite und sie sehen: Das sind unsere Mitmenschen, das sind die Orte, wo sie hingehen zum Gebet, wo sie ihre religiöse Praxis vollziehen. Aber ich sehe nicht, dass dies die Religiosität der Schüler:innen tangieren muss. Ich finde es völlig in Ordnung, wenn sie dort hingehen, sehen was an diesem Ort als Teil ihrer sozialen Umwelt passiert und darüber nachdenken. In Bezug auf die Religiosität der Schüler:innen würde ich aber vorerst eine Linie ziehen. Da vorherig noch der Begriff learning from religion eingeworfen wurde: Das ist kein unumstrittenes Konzept. Wo kippt das learning from in ein religiöses Lernen? Da gibt es durchaus Kontroversen. Deshalb wäre ich in dieser Hinsicht vorsichtig.
Thomas Schlag: Ich bin ja nicht gegen Vorsicht. Ich bin aber nicht dafür, dass man die Potenziale unterschätzt, die durch so etwas ermöglicht werden. Zum Beispiel zieht man beim Moscheebesuch die Schuhe aus und da gibt es verschiedene Varianten, das zu thematisieren. Ich kann das informierend sagen, aber ich kann gleichzeitig auch sagen, da wird dieser Ort aufgeladen durch die Menschen, die da religiös praktizierend sind. Das kann ich versuchen über den Begriff der Funktion: Ich kann sagen, der Ort ist für diese Menschen so wichtig, da muss man bestimmte Dinge tun, damit er seine Funktion erfüllt.
Ich kann natürlich – jetzt bringe ich nochmals den Begriff des Staunens auf – eine Sensibilität für die Bedeutung dieses Ortes als «heilig» wecken. Etwa in dem Fragesinn: «Ist euch gerade klar oder nehmt ihr wahr, welche Bedeutung dieser Ort für Menschen hat?» Deshalb würde ich nochmals unterscheiden zwischen dem Forschen und dem Entdecken. Ich würde mich sehr dagegen wehren, Schüler:innen zu «kleinen Religionswissenschaftler:innen» zu machen. Sie sollen entdecken. Und zwischen Forschen und Entdecken besteht ein Unterschied.
WENN «ERLEBEN» HEISST, RELIGIÖSE
PRAKTIKEN NACHZUVOLLZIEHEN –
WIE FÜHLT ES SICH AN IN DER MEDITATION ZU SITZEN,
WIE FÜHLT ES SICH AN, IN EINER GEBETSPOSITION ZU SEIN –
DANN WÜRDE ICH SAGEN, DAS SIND DINGE,
DIE MÜSSEN SIE NICHT IM
RELIGIONSKUNDLICHEN UNTERRICHT ERFAHREN.
Philipp Hetmanczyk
Christoph Stapfer: Kommen wir nochmals zurück auf das Stichwort «Erleben». Zum Entdecken gehört das ja auch dazu. Das soll schon auch Teil eines religionskundlichen Unterrichts sein – das Fassbare, Sichtbare oder Hörbare wahrzunehmen?
Philipp Hetmanczyk: Ja, ich würde hier einfach differenzieren. Natürlich soll es Teil eines religionskundlichen Unterrichts sein, dass sie sich z. B. mit religiöser Kunst auseinandersetzen, dass sie wahrnehmen, wie der Muezzin ruft – also ein Lernen über Religion (learning about). Wenn «erleben» heisst, religiöse Praktiken nachzuvollziehen – wie fühlt es sich an in der Meditation zu sitzen, wie fühlt es sich an, in einer Gebetsposition zu sein – dann würde ich sagen, das sind Dinge, die müssen sie nicht im religionskundlichen Unterricht erfahren. Da würde ich tatsächlich eine Grenze ziehen.
Christoph Stapfer: Also so weit würden Sie auch nicht gehen, wenn man sagt, wir stellen quasi religiöse Praktiken nach?
Thomas Schlag: Es ist gar nicht notwendig, das zu tun. Weil es die Möglichkeit gibt, dass Religionsvertreter:innen ins Klassenzimmer kommen oder beim Besuch eines Ortes zur Verfügung stehen und erzählen. Das reicht doch völlig aus, um ein Gefühl oder Verständnis zu bekommen. Ich finde es da schwierig, wenn im Unterricht meditiert werden soll. Es ist nicht notwendig. Aber es gibt doch tausend andere Formen, auch didaktisch gesprochen, wie man ein Verstehen, wie man ein Gefühl für Religion entwickeln kann.
Christoph Stapfer: Geht das? Soll der Unterricht ein Gefühl für Religion entwickeln?
Philipp Hetmanczyk: Da ein Grossteil der Schüler:innen, die sich in den Klassenzimmer finden, aus säkularen Elternhäusern kommen, ist es nicht unbedingt plausibel, religiöse Gefühle wecken zu wollen.
Thomas Schlag: Aber «gefühlte Religion» ist etwas anderes als «religiöse Gefühle»!
Philipp Hetmanczyk: Stimmt, aber bezüglich der Frage nach einem «Gefühl für Religion» würde ich sagen, dass Schüler:innen primär einen Standpunkt zu Religion entwickeln sollten. Ob sie das mit einem Gefühl assoziieren, kann sein, aber das wäre auch nicht primäres Unterrichtsziel. Unterrichtsziel sollte sein, dass sie einen Standpunkt zum Unterrichtsgegenstand «Religion» entwickeln.
Thomas Schlag: Wie würde man etwa damit umgehen, wenn sich im Unterricht dezidiert religiös fundamentalistische Positionen unter den Schüler:innen ergeben? Was machen wir dann?
Philipp Hetmanczyk: Ja, ich denke hier gilt das Kontroversitätsgebot. Was kontrovers ist, muss diskutiert werden. Gleichzeitig passiert ein religionskundlicher Unterricht in einem Kontext der Schule, die sich als eine öffentliche Schule religiös und konfessionell neutral gibt. Ebenfalls steht sie für Werte wie Gleichberechtigung, Gender Equality, Menschenwürde, Respekt. Das wären die Leitlinien, an denen sich eine Lehrperson im Fach RKE orientieren muss. Da muss das Auftauchen von fundamentalistischen Äusserungen genauso kritisch diskutiert werden wie antisemitische Äusserungen, wie jede Form von Rassismus oder Diskriminierung.
Thomas Schlag: Das leuchtet mir sofort ein. Aber jetzt nehmen wir mal einen innerreligiösen Fundamentalismus. Jemand sagt: dein Jesus Christus, das ist kein Gott. Oder: ich habe den einzig möglichen und höchsten Gott. Da kommst du mit dem Verweis auf das Kontroversitätsgebot nirgendwohin. Denn da geht es um innerreligiöse Wahrheitsansprüche. Wie geht man mit diesen um?
Philipp Hetmanczyk: Dafür gibt es natürlich kein Kochrezept. Es gilt zum einen zu schauen, wie sich diese Fundamentalismen zeigen. Auch da kann es beim RKE-Unterricht nicht darum gehen, Schüler:innen von ihrer eigenen Religiosität weg zu bekehren. Zum anderen wäre es ein Ansatz zu sagen, dass es im Unterricht, in der Schule, im Miteinander funktionieren muss. Dann gibt es vielleicht unterschiedliche Wahrheitsansprüche, aber diese müssen dann nebeneinander bestehen können. Da würde ich sagen, geht es um die Kompetenz der Diversitäts- oder Differenztoleranz.
WORUM ES GEHEN SOLL, IST,
DASS MAN DIE SCHÜLER:INNEN VERSUCHT,
FÜR DEN GEGENSTAND ZU INTERESSIEREN,
WEIL ES TEIL IHRER SOZIALEN UMWELT IST.
Philipp Hetmanczyk
Christoph Stapfer: Wie ist der umgekehrte Fall? Sie haben es vorher angesprochen: Viele Kinder sind säkularisiert, wachsen in einem säkularen Umfeld auf und interessieren sich vielleicht gar nicht für Religion. Wie geht man mit ihnen um? Wie holt man sie im Unterricht ab?
Philipp Hetmanczyk: Ja klar, schwierig. Da stellt sich für mich didaktisch die gleiche Frage: Wie interessiere ich Schüler:innen für Mathematik oder für Geschichte. Bei Religion ist es diffiziler, weil die Plausibilität des Gegenstandes nicht unbedingt gesehen wird, da manche Schüler:innen sich in unserer Gesellschaft auch fast gänzlich ohne Religionskontakte bewegen können. Sozusagen: «Religion, was ist das überhaupt? Spielt in meinem Leben keine Rolle.» Da müsste es auch im religionskundlichen Unterricht nicht darum gehen, eine religiöse Musikalität in diesem Menschen zu wecken. Wenn das ihre Lebensführung ist, dann ist das in Ordnung.
Worum es gehen soll, ist, dass man die Schüler:innen für den Gegenstand zu interessieren versucht, weil es Teil ihrer sozialen Umwelt ist. Auch wenn Religion in ihrer eigenen Lebenswelt keine zentrale Rolle spielt, dann doch vielleicht im Leben ihrer Mitbürger:innen. Religion ist weiterhin ein Faktor, der das gesellschaftliche Geschehen prägt, vielleicht nicht nur auf einer rein persönlichen Ebene, aber beispielsweise in den Medien oder in der Abstimmungslandschaft spielt sie eine zunehmend grosse Rolle. Hier zeigen sich Überschneidungen in andere Fachbereiche.
Christoph Stapfer: Spricht das in dem Sinne auch dafür, dass man versucht, sie auf eine wissenschaftliche Art und Weise abzuholen, im Gegensatz zum Erleben oder der direkten Auseinandersetzung mit Religion?
Philipp Hetmanczyk: Es kommt natürlich immer darauf an. Es muss altersbezogen sein. Ich kann nicht alles mit allen Schüler:innen jeden Alters diskutieren. Aber ich denke, ab einer bestimmten Stufe geht es natürlich auch um Fragen, wie Religion unsere Gesellschaft prägt und was für politische und ethische Konsequenzen daraus entstehen. Die kann man diskutieren.
UND DA WÜRDE ICH SAGEN,
DAS IST AUCH RESPEKTLOS.
VON DAHER WÜRDE ICH MIR SELBST
VOM SÄKULAREN STANDPUNKT AUS ERWARTEN,
DASS MAN MÖGLICHST VERSUCHT ZU VERSTEHEN,
WARUM MENSCHEN RELIGIÖS SIND.
Thomas Schlag
Thomas Schlag: Ich möchte noch etwas zum Gesagten hinzufügen. Wenn wir uns jetzt vorstellen, wir haben es mit Schüler:innen zu tun, die völlig säkular geprägt und aufgewachsen sind. Jetzt wie Philipp sagt: man muss ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass Religion nach wie vor ein gesellschaftlicher Faktor ist. Es gibt für mich schon auch ein No-Go, das man benennen müsste: nämlich militante Freidenker, die nicht nur sagen, dass Religion keine Bedeutung für sie und die Gesellschaft hat, sondern auch sagen, dass alle die religiös sind, doof wären. Und da würde ich sagen, das ist auch respektlos. Von daher würde ich mir selbst vom säkularen Standpunkt aus erwarten, dass man möglichst versucht zu verstehen, warum Menschen religiös sind.
Philipp Hetmanczyk: Ja, aber ich möchte die Perspektive trotzdem auch umdrehen. Ich denke genauso müsste auch vermittelt werden, dass es auch okay ist, ohne Religion zu leben. Das ist auch nicht immer für alle Schüler:innen nachvollziehbar. Wir sprachen vorher über Fundamentalismus. Ich denke, das sind extreme Beispiele, die nicht ständig auftreten und nicht den Normalfall darstellen. Umgekehrt muss aber auch Religion kein Normalfall sein und Werteorientierung ist auch in säkularen Settings möglich. Es kann ja auch ein Vorurteil sein: «Du hast keine Religion, entsprechend hast du keine Werte oder Prinzipien.» Es gibt auch Vorurteile in diese Richtung.
Christoph Stapfer: Wir haben es nun nicht ganz zurück auf einen Nenner geschafft. In den grossen Spuren waren Sie sich grundsätzlich einig, aber man merkt, es wird sehr schnell sehr komplex in den Details. Ich danke Ihnen vielmals Prof. Schlag und Dr. Hetmanczyk für das Gespräch.
Veröffentlicht auf reli.ch am 29. Mai 2024
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