Von närrischen Lebemännern in der Regierung und wie Frauen in einem übergriffigen System politisieren erzählt das Buch Ester.

Es ist das bisher grösste Erzählprojekt des noch jungen Vereins BibelErz, der sich dem freien Erzählen biblischer Geschichten widmet: «ESTER – das Buch». Aus einem Thementag mit Dr. Veronika Bachmann entstand ein Abend-Programm für Erwachsene, bei dem drei Frauen mit ihrer je eigenen Mundart dem alten persischen Märchen neues Leben einhauchen.
Während Ester in der jüdischen Tradition als Festrolle zum Purim-Fest jährlich gelesen wird, führt sie in der christlichen Tradition eher ein Schattendasein zwischen den Geschichtsbüchern oder anderen Schriften. Dabei ist der Stoff, aus dem dieses Märchen gewoben ist, erschreckend aktuell. Es erzählt von Männern, die ihre Macht missbrauchen, schnell beleidigt und überfordert sind mit ihrer Rolle als Staatsmann – mit schweren Folgen für das ganze ihnen anvertraute Gebiet.

Alter Spiegel der Gegenwart

Das Buch scheint zunächst einem Drehbuch zu folgen wie dem von Aschenputtel: Ein armes Mädchen findet nach langer Prozedur Gefallen in den Augen des Königs und wird am Ende Königin – soweit der gefällige von den vielen Erzählfäden dieser Geschichte. Man hat ihn eigentlich ganz gern, den leicht verstrubbelten aber grosszügigen Despoten und verzeiht ihm zunächst manchen Fauxpas. Die erste Frau des Königs, Königin Waschti, will aber kein schönes Spielzeug sein. Sie weigert sich, vor den betrunkenen Freunden des Königs zu tanzen, nur damit er prahlen kann.

«Jo welläwääg goni döt öbere! Mi go präsentiere zo dene Glotzer ond Grabscher.» D Waschti schütled de Chopf, und denn seid si luut und düütlich: «Nei!» (Est 1,12)

Ihren Widerstand muss Waschti teuer bezahlen und der König will eine neue Königin. Es folgt ein Casting, das die jüdische Ester gewinnt. Sie ist eine unter vielen, die nach ihrer Schönheits-Kur im Frauenpalast dem König zum «testen» vorgeführt werden.

«Es haubs Johr werd sie Tag för Tag met em Balsam vo de Myrre igrebe, s ander haube Johr met em würzige Öl noch ere uralte Rezeptur, e so wies d Froue scho emmer könnt hend.» (Est 2,12)

Der Scharfmacher und sein Regent

König Achaschwerosch ist ein aufbrausender Lebemann und gefährlich, wenn man ihn reizt. Waschti wird verstossen, aber dabei belässt man es nicht. Seine Berater bequatschen ihn, ein Gesetz zu erlassen, das für alle 127 Provinzen gilt. Der Widerspruch einer einzigen Frau hat für alle Frauen im Land Konsequenzen. Da der König eigentlich überfordert ist mit seinem Amt, überlässt er den Siegelring bald seinem Oberst Haman, ein Scharfmacher und Aufwiegler, der selbst gern König spielt. Er plant perfide die Enteignung sämtlicher Güter und den Genozid am jüdischen Volk, da sich ein einziger Jude nicht vor ihm niederknien will: der mit Ester verwandte Mordechai.

«Jo de Haman, de Agagiter, de Amalekiter, dä fauschi Siech mags chum erwarte, bes er de Achaschwerosch cha froge, öb er de Mordechai ändlech chön a Pflock vor sim Hus bende. I aller Herrgottsfrüechi esch er ufgschtande, ond etz stolziert er im Hof omenand, hed d Nase höch obe, schtreckt d Broscht use ond blanget drauf, dass de Palascht zom Läbe verwachet.» (Est 3; 6,4)

Hilft Gott oder nicht?

Um den Genozid zu verhindern, wird Ester aktiv, nutzt die Zuneigung des Königs und appelliert an seine Empathie für ihr Volk. Bei mehreren Ess-Gelagen studiert sie die Art und Weise, wie Haman und Achaschwerosch zu beeinflussen sind. An ihrem Neid und ihrer Überheblichkeit scheitern schliesslich beide. In der hebräischen Vorlage wird zwar gefastet und gebetet, aber mit keinem Wort Gottes Zutun erwähnt, weshalb das Buch Ester auch als «gottloses Buch der Bibel» bezeichnet wird. Die griechische Fassung enthält zusätzliche Gebete des Mordechai. Letztendlich hängt die Wendung aber auch hier von den Menschen ab.

Mit 75’000 Toten endet das Buch Ester. Zählt man alle Leichen, kommt man auf 75’520 – der königliche Befehl zum Genozid wird gewendet und kehrt sich gegen die, die ihn ausführen wollen. Das jüdische Volk darf sich, ebenfalls auf königlichen Befehl, wehren. Nur: bereichern darf sich das Volk Gottes nicht. Die Enteignung der Besiegten gehörte zum Plan des Haman. Nach dem Gemetzel kehrt endlich Ruhe ein, am 3. Tag, dem 15. Adar, dem letzten Monat im Jahr …

«Ond denn voschiggeds de Brief is ganze Persische Riich

De Brief volle Wörter wo Fride bringed ond Woret

und die söled gälte! Bis zom hütige Tag.» (Est 9,29-32)

Das Märchen vom Frieden

Nach derart vielen Leichen und drastischen Darstellungen, wie dem Bösen der Garaus gemacht wird, ist der verordnete Frieden auf dem Papier nicht gerade ein märchenhafter Schluss – oder doch?! Was beim Hören der biblischen Geschichte ausbleibt, ist die Erleichterung, die beim Märchenschluss spürbar wird, wenn z.B. der (Märchen-)Wolf tot ist.
Während Xerxes I. und sein Sohn Artaxerxes I., die persischen Grosskönige aus dem 5. Jh v. Z., im Buch Ester Pate für König Achaschwerosch stehen, finden sich im 21. Jh. die Protagonisten der Dichtung ebenso auf den Polit-Bühnen: Präsidenten, die schnell beleidigt sind und deren Befindlichkeiten oft zur Staatskrise werden, ebenso Zyniker und Aufwiegler, die sich selbst in der Opferrolle sehen (wie Haman). Aber auch die weiblichen Protagonistinnen finden ihr Spiegelbild in der Gegenwart.

Man könnte nun sagen: «Ja, wenn das immer schon so war, lässt sich wohl wenig ändern.» Doch im Buch Ester passiert die Veränderung. Die Struktur des Totbringenden wird entlarvt. Diese Ent-Deckung ist für das Überleben not-wendig und Voraussetzung für eine friedliche Zukunft. Der «Wolf» muss als solcher erkannt werden, um ihn zu besiegen.

Es ist die Erschütterung am Ende, die einen neuen Anfang ermöglicht. Auch das Publikum von Ester ist am Ende der Geschichte erschüttert – erzählt das Märchen doch unsere Geschichte heute, und hoffentlich auch vom möglichen Frieden morgen.

«ESTER – das Buch»

Ein persisches Märchen in populistischer Zeit  |  Altersempfehlung ab 16J.