«Es ging ein Sämann aus, zu säen.» Vom Wert der Narration im Religionsunterricht
Die Bibel erzählt Geschichten. Jüdischer und christlicher Glaube kommen nicht ohne Erzählungen aus. Die Rede ist nicht nur von biblischen Geschichten, sondern auch von Lebens- und Glaubensgeschichten. Dieser Beitrag plädiert dafür, dass der Religionsunterricht auch nach der Primarstufe die wertvolle Tradition des Erzählens weiterführt und die Lernchancen, die sie bietet, für den Unterricht nützt.
Erzählen im Religionsunterricht
Zunächst sei die Gegenfrage gestattet. Warum denn? Gibt es nicht auch viele lyrische und systematisch-theologische Texte in der Bibel?
Ja, im Alten und Neuen Testament finden sich auch Gedichte, die vorgetragen oder auch vorgesungen wurden. Die meisten Paulusbriefe sind anspruchsvolle Sachtexte. Den größten didaktischen Wert haben aber die biblischen Erzählungen, und das nicht nur bei Kindern und Alten.
Schon Jesus wusste das. Wenn er von Gott sprach, erzählte er Gleichnisse. Fast immer sind diese «religiösen Kurzgeschichten» in einen erzählten Rahmen eingebunden. Am eindrücklichsten geschieht das im 14. Kapitel des Lukasevangeliums. Da erzählt der Evangelist, dass Jesus zu einer festlichen Gesellschaft eingeladen war, offenbar als Ehrengast. Während des Festmahls erzählte er eine Geschichte, das Gleichnis vom großen Festmahl.
Wer erzählt?
Jesus selbst. Das erwähnte Gleichnis zeigt, dass Jesus selbst das Mittel der Narration nutzte, um zu lehren.
Die Bibel. Mit dem leeren Grab beginnt die narrative Jesusüberlieferung. Maria Magdalena erzählt den Aposteln, dass sie im Grab Jesu seinen Leichnam nicht gefunden hat. Als zwei Männer auf dem Weg nach Emmaus dem Auferstandenen begegnen, kehren sie unverzüglich um, um den Jüngern in Jerusalem zu erzählen, was sie erlebt haben.
Diese und viele andere Erzählungen finden Eingang in das Neue Testament. Und als die Evangelien geschrieben sind, werden sie weitererzählt. In den Familien, in den Gottesdiensten, in den Unterweisungen. Und die Bibelgeschichten werden Gegenstand von erzählenden Bildern und Kirchenfenstern.
Die Religionslehrperson. Erzählen im Religionsunterricht setzt diese Tradition fort. Die Grundschule erzählt schon lange und weiß, welche Chance sie da nutzt. Doch auch der Religionsunterricht der Sekundarstufe tut gut daran, die narrative Didaktik nicht zu unterschätzen. Wer gut zu erzählen weiß, sichert sich die Aufmerksamkeit auch der Schülerinnen und Schüler in der letzten Bankreihe.
Schülerinnen und Schüler. Werden Lernende dann nicht zu Konsumenten, die sich mit schönen und lehrreichen Geschichten unterhalten lassen. Nicht, wenn aus Hörenden Erzählende werden. Wenn Schülerinnen und Schüler üben, selbst biblische Geschichten zu erzählen, eignen sie sie sich an. Selbst erzählen ist eine Lernchance in allen Schulstufen.
Was wird erzählt?
Bibelgeschichten, aber nicht nur Bibelgeschichten. Da wo die Apostelgeschichte endet, erzählen Legenden von Petrus und Paulus. Heiligengeschichten von Franz von Assisi können ebenso wertvoll sein wie Bibelgeschichten.
Erzählende Literatur. Die Auswahl ist riesig. Zwei Geschichten, die dem Autor dieses Beitrags besonders wichtig sind, seien hier genannt.
- Abu Sulaiman (10. Jahrhundert) vergleicht seine Religion mit dem Zimmer einer Karawanserei, in das es hineinregnet. Er überlegt, ob er nicht das Zimmer (d. i. seine Religion) wechseln soll – und entscheidet sich dagegen. Hier hat der Autor sie nacherzählt und gedeutet.
- Bekannter ist die Ringparabel von Gotthold Ephraim Lessing. Auch sie gilt es nicht im Original zu lesen, sondern zu erzählen.
Alltagsgeschichten. Nicht jede Anekdote, die der Großvater zum Besten gegeben hat, ist es wert, im Unterricht erzählt zu werden. Aber da, wo Dilemmata, Haltungen oder kluge Einsichten sichtbar werden, lohnt es sich, den Schatz der Erzählungen der Großeltern zu nutzen.
Wie erzähle ich eine biblische Geschichte «richtig»?
Die dreifache Authentizität. Gutes Erzählen achtet auf drei Dinge. Die Erzählung bleibt der Intention des Bibeltextes treu und verändert sie nicht mutwillig. Sie bedient sich einer Sprache, die die Hörerinnen und Hörer verstehen. Und sie ist so gestaltet, dass zu spüren ist, dass das Erzählte auch dem Erzählenden etwas bedeutet.
Eine persönliche Note ist willkommen. Die Hörenden dürfen erkennen, was diese Geschichte mir, den Erzählenden sagt. Ein Beispiel gefällig? Ich habe die Geschichte des Jona erzählt. Sie kommt ohne die Episode mit dem Walfisch aus. Dafür enthält sie eine «Moral», die auch ältere Schülerinnen und Schüler beschäftigen wird.
«Lukas erzählt…» Schließlich sind biblische Erzählungen keine Berichte und sollten auch nicht so genannt werden. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind keine Augenzeugen, sondern sie schreiben theologische Erzählungen. Synoptische Vergleiche, beispielsweise der Weihnachts- oder Ostererzählungen sind deshalb in aller Regel nicht das Mittel der Wahl. Biblische Erzählungen haben immer einen historischen Kern, aber sie wollen mit den Methoden gedeutet werden, mit denen auch eine Ballade von Schiller oder eine Kurzgeschichte von Erich Kästner erschlossen wird. Empfehlenswert sind Rahmungen, die darauf verweisen, dass wir erzählen, was der Evangelist erzählt: «Diese Geschichte erzählt uns die Bibel…»
Unbekannte, aber didaktisch wertvolle Bibelerzählungen
Mose hilft drei Schwestern gegen rabiate Hirten. (2 Mose 2,15-22)
Mose, der gerade aus Ägypten geflohen ist, schützt drei Hirtinnen – sie sind Schwestern – vor rabiaten Männern, die sich in der Wüste an einer Wasserstelle vordrängen. Weil sie deshalb früher als sonst nach Hause kommen, ist der Vater sehr verwundert und lädt Mose in sein Haus ein.
Didaktischer Fokus: Die Schwachen in der Gesellschaft brauchen manchmal ein mutiges und robustes Engagement. Frieden und Gerechtigkeit sind Zwillinge.
Salomo, wünscht sich nicht noch mehr Geld (1 Kön 3,4-9)
Der junge König in Jerusalem träumt eines Nachts, dass Gott mit ihm spricht. «Wünsch dir, was du willst. Ich will es dir geben», hört er ihn sagen. Er entscheidet sich gegen materielle Wünsche und bittet Gott um «ein hörendes Herz».
Didaktischer Fokus: Geld und Reichtum setzt sind Salomo nicht unwichtig, aber sie stehen an zweiter Stelle. Aber was ist «ein hörendes Herz“? Achtsamkeit? Empathie? Empfindsamkeit?
«Es ging ein Sämann aus, zu säen.» – ein Gleichnis Jesu (Mk 4,3-9)
Ein Landwirt streut den Samen auf das Land. Nur ein Bruchteil wird aufgehen, wurzeln, wachsen und Frucht bringen. Hat es sich dennoch gelohnt?
Didaktischer Fokus: Pädagogische Arbeit ist oft vergeblich. Aber lohnt sie sich nicht dennoch?
Hier nacherzählt und gedeutet vom Autor.