Gefühle Affekte Emotionen
Welche Rolle spielen Gefühle in meinem Alltag? Was haben sie mit Werten und Normen zu tun? Die Affekt-Forschung liefert dazu hilfreiche Antworten.
Gefühle – eine Privatsache?
Gefühle sind nicht nur individuell, sie sind geprägt von der Gesellschaft, in der wir aufwachsen und leben. Seit den 1990er Jahren wird dieser Zusammenhang in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften stärker in den Blick genommen. Die Forschung in den Affect Studies geht davon aus, dass Gefühle notwendiger Bestandteil von Kultur, Sozialität und Politik sind. Zentrale Stossrichtung der Affect Studies ist es, die Verwobenheit von Körper und Geist zu fokussieren, indem Emotionalität und Rationalität nicht mehr als einander entgegengesetzt, sondern als miteinander verbunden konzipiert werden (vgl. den Fachbeitrag Embodiment). Kritisiert und dekonstruiert werden Hierarchien, die mit diesem Dualismus verknüpft sind: Materie – Geist, Frau – Mann, Schöpfung – Gott, Natur – Kultur. Dieser Paradigmenwechsel wird gemeinhin als affective turn bezeichnet. Der turn knüpft freilich an vielfältige Arbeiten und gesellschaftliche Entwicklungen an. So haben beispielsweise in den 1970er-Jahren Frauen intensiv darüber nachgedacht, wie ihre subjektiven Gefühle mit gesellschaftlichen Strukturen verknüpft sind – und als zweite Frauenbewegung den Slogan «das Private ist politisch» geprägt.
Gefühle – und die Normen dahinter
Zentrale Impulse der Affect Studies lassen sich gut in Alltagswelten und die religionspädagogische Praxis übersetzen. Wichtig ist insbesondere die Überlegung, dass Affekte, Gefühle und Emotionen eng mit individuellen und kollektiven Werten und Normen verknüpft sind. Die Kulturwissenschaftlerin Sara Ahmed macht das beispielsweise an Glücksgefühlen deutlich. Glücksgefühle sind positiv konnotiert. Ahmed hinterfragt diese Konnotation kritisch: Hinter vermeintlich persönlichen Glücksvorstellungen stehen gesellschaftliche Machtstrukturen. Ahmed spricht von Glücksversprechen, an welche bestimmte Erwartungen geknüpft sind, die also soziale Normen definieren. «Glück» gilt in der westlichen Welt als Ausdruck für zivilisatorischen Fortschritt: Je fortschrittlicher eine Gesellschaft, desto glücklicher ist sie. Die Kehrseite des Glückversprechens bedeutet: Wer unglücklich ist, macht etwas falsch. «Glücklich-sein» wird dabei mit einer bestimmten Lebensform verbunden: Der weissen, heterosexuellen Kleinfamilie. Glücksversprechen haben also Einfluss darauf, wer zur Mehrheitsgesellschaft gehört und wer nicht. Das westliche Glücksversprechen, das Ahmed analysiert, steht entsprechend in engem Zusammenhang mit Geschlechternormen und der bürgerlichen Gesellschaftsordnung. Die Vorstellung der glücklichen Mutter und Hausfrau und der glücklichen heterosexuellen Ehe gehört zu einer Kultur-Erzählung, in der Frauen traditionell Aufgaben im privaten, häuslichen Bereich zugeteilt sind. Sie sind es, die dort Glück herzustellen haben.
Gefühle – ein kritischer Blick
In den Affect Studies werden Gefühle, die gemeinhin negativ konnotiert sind – Scham, Angst, Trauer – ebenfalls einem kritischen Blick unterzogen. Auch hier stellt sich die Frage, mit welchen Werten und Normen sie verbunden sind. Ähnlich wie bei «positiven Gefühlen», sind die Effekte, das «Tun», der negativen Gefühle stark wirksam in Subjektivierungsprozessen. Scham beispielsweise spielt eine grosse Rolle in der Konstruktion der eigenen Identität: Wer kann ich sein, wer darf ich sein? Damit bilden Gefühle wie Scham Grundlagen von sozialer Ordnung. Beispielsweise auf Geschlechternormen angewandt, kann das bedeuten: Wer Geschlecht oder Begehren nicht so lebt, wie es die hegemoniale Geschlechterordnung vorschreibt, wird sanktioniert, wird «beschämt» (engl. shaming). Da Scham auch sinnvolle Grenzen aufzeigen kann, ist der zentrale Punkt, dass anhand der Scham, darüber nachgedacht werden kann, wie diese Grenzen beurteilt werden: Sind wir mit ihnen einverstanden oder nicht? Damit gewinnen die Affect Studies den sogenannten negativen Gefühlen eine kollektivierende, positive Seite ab: «Historisch kann man sagen: Grosse Bewegungen unserer Zeit, wie die Schwarze Bürger*innenrechtsbewegung und die Queere Bewegung, haben sich aus einem Shaming entwickelt. Sie haben das Shaming aufgegriffen, kritisch umgearbeitet und daraus eine Solidarisierung für eine Bewegung gewonnen.» («Bad Feeling» mit Potenzial. Neue Wege-Gespräch mit Christa Binswanger und Andrea M. Zimmermann. In: Neue Wege 8/7.2020)