„Alles bei ihnen redet, nichts gerät mehr“ – Momente der Stille im Gottesdienst
In seinem Werk „Also sprach Zarathustra“ beklagt Friedrich Nietzsche in eindrücklichen Worten, dass nicht mehr gehört werde: „Alles bei ihnen redet, nichts gerät mehr und kommt zu Ende. Alles gackert, aber wer will noch still auf dem Neste sitzen und Eier brüten?“ Natürlich hatte er damals nicht die gottesdienstliche Praxis im Sinn. Aber könnte diese Klage nicht auch manchen unserer Gottesdienste betreffen?
Ich gebe es zu, mir gefällt das Bild vom Eier Brüten! Und mir fällt sofort eine Gottesdienstform ein, die dem sehr entspricht: Die Quäkerandacht („silent worship“ oder „silent meeting“). Sie besteht zu einem sehr grossen Teil, manchmal vollständig – aus Schweigen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lauschen auf das, was Gott ihnen mitteilen will und suchen nach dem, was sie ihm innerlich sagen wollen.
Nun, unsere Gottesdienste sind anders. In ihnen wird laut gebetet, geredet, gesungen, musiziert, gekniet, gestanden und gesessen, Rituale vollzogen, ja manchmal sogar gegessen und getrunken. Und andererseits entsprechen unsere Gottesdienste auch nicht der Schilderung Nietzsches, denn Gegackere ist da normalerweise nicht zu hören. Alle Verantwortlichen bemühen sich, relevante und gute Worte zum Reden mit und über Gott und mit der Gemeinde zu finden. Und die meisten Teilnehmenden sitzen sowieso schweigend und zuhörend in den Bänken. Und doch…: Auch wenn unser Gottesdienst kein permanentes Gegackere ist, fehlen häufig bewusste Momente der Stille. Drei Arten des Schweigens sind für den Gottesdienst wünschenswert, um nicht zu sagen notwendig – und eigentlich auch vorgesehen in den liturgischen Büchern. Dabei sind diese drei nicht streng voneinander zu unterscheiden, sondern überschneiden sich oder fliessen ineinander. Im Folgenden werden diese drei Arten kurz anhand des Beispiels der Eucharistiefeier betrachtet.
Das fokussierende oder sammelnde Schweigen
Der Religionsphilosoph und Theologe Romano Guardini hat in seinen Schriften immer wieder betont, wie wichtig die Sammlung für eine gute Mitfeier des Gottesdienstes sei. Moderner würden wir von Aufmerksamkeit oder Fokussierung sprechen. Um im Gottesdienst anzukommen, müssen wir uns sammeln, manches, was uns beschäftigt, zur Seite legen, anderes in den Blick nehmen. Dazu brauchen wir Zeit und Stille. An einer Stelle in der Eucharistiefeier ist ein solches sammelndes Schweigen vorgesehen, wird aber in fast allen Feiern übersehen: im Bussakt.
Das Messbuch kennt drei Formen des Bussakts (wobei in der deutschsprachigen Schweiz fast ausnahmslos die Form C Verwendung findet). Ein wichtiges Element aller drei Formen ist die Stille. Im Ordo Missae heisst es explizit: „Es folgt [auf die knappe Einführung in die Feier] das Allgemeine Schuldbekenntnis mit Einladung und Stille“. In jeder der drei folgenden Formen lädt der Vorsteher zur Besinnung oder Prüfung in Stille ein. Es geht also nicht darum, dass jemand der Gemeinde mit gewandten und klugen Worten aufweist, wo sie vor Gott schuldig geworden sein könnte, sondern um das Angebot eines Raumes, in dem jeder und jede in Stille selbst überlegen kann, wo er oder sie gesündigt hat. Damit dies gelingt, braucht es eine gute und klare Einladung – und eben genügend Zeit in Stille.
Analog gilt dies auch für andere Momente im Gottesdienst, in denen die Teilnehmenden zum Nachdenken eingeladen werden (z.B. in der Predigt): Nachdenken, Fokussieren, Sich-Sammeln braucht Zeit und Stille!
Das schweigende Hören
Die Stille im Kontext der Verkündigung des Wortes Gottes leuchtet uns wahrscheinlich am ehesten ein. Das schweigende Hören der Lesungen und der Predigt ist ein für uns selbstverständliches und wesentliches Element jedes Gottesdienstes. Das Messbuch schlägt aber vor, dieses Hören noch mit expliziten Momenten der Stille zu umgeben. So heisst es in der „Grundordnung des Römischen Messbuchs“ (GORM) nach der Ersten Lesung: „Danach kann gegebenenfalls eine kurze Stille gehalten werden, damit alle das Gehörte bedenken.“ (Nr. 128) Ähnliches wird nach der Zweiten Lesung empfohlen (Nr. 130) und nach der Predigt (Nr. 136). Nach dem „Direktorium für Kindermessen“ ist es sogar möglich, den Antwortpsalm zugunsten einer besinnlichen Stille ausfallen zu lassen (Nr. 46). Diese Stille nach der Schriftverkündigung entspricht der geistlichen Erfahrung, dass Gott sich im Schweigen und in der Stille mitteilt. In dieser Erfahrung ist wohl auch das lange Schweigen in der Quäkerandacht begründet. In der deutschsprachigen Schweiz ist es häufig so – auch in Messfeiern mit Erwachsenen – , dass der Antwortpsalm zugunsten einer meditativen Orgelmusik ausfällt. Dabei stellt sich die Frage, ob nicht eine Stille ohne Musik für das Nachdenken über das eben Gehörte und das Lauschen auf Gottes Wort nicht hin und wieder auch sinnvoll wäre – mit anschliessendem Psalm.
Ein Minimum an Stille im Kontext der Schriftverkündigung kann übrigens der ruhige und unaufgeregte Vollzug der liturgischen Riten leisten: Die Lektorin macht sich erst auf den Weg zum Ambo, wenn alle sich nach dem Tagesgebet gesetzt haben. Die Augen der Teilnehmenden verfolgen ihren Weg. Die Spannung auf das zu Hörende wird gesteigert – ein natürlicher Moment des fokussierenden Schweigens. Und nach der Lesung wartet der Organist mit der Intonation des Antwortpsalms oder des Halleluja einige Momente, bis die Lektorin wieder an ihrem Platz angekommen und Ruhe eingekehrt ist. Ein stiller Moment in der das Gehörte nachklingen kann.
Solche kurzen Momente der Stille helfen übrigens auch an anderen Orten (vor den Fürbitten, vor der Präfation, nach der grossen Doxologie, usw.), die Feier zu rhythmisieren, die Aufmerksamkeit neu zu wecken und damit, den Gottesdienst bewusst mitzuvollziehen (und nicht einfach dahinplätschern zu lassen wie eine Samstagabend Fernsehshow, in der nahtlos Act auf Act folgt).
Das epikletische Schweigen
Eine dritte Form der Stille im Gottesdienst ist das sogenannte „epikletische“ (herabrufende, betende) Schweigen. Es ist eine Art gefülltes Schweigen vor Gott. In Stille flehen wir Gott an, bitten, danken, verstummen vor dem Geheimnis, das Gott ist. Der Mensch und alle Welt verstummen in seiner Gegenwart (vgl. Hab 2,20). Diese Stille nimmt Gottes Grösse und Andersartigkeit ernst und bewahrt uns so vor Banalitäten und Plappereien im Gebet (vgl. Mt 6,7). Und gleichzeitig ist diese Stille, in der jede und jeder vor Gott steht, die persönlichste Form des gemeinsamen Gebetes: Wir besinnen uns darauf, dass wir „vor dem Angesicht Gottes stehen“ und können „unsere Bitten im Herzen aussprechen“ (vgl. GORM 54).
Dieses epikletische Schweigen hat in der Eucharistiefeier seinen Platz v.a. bei den sogenannten Präsidialgebeten, also beim Tagesgebet, Gabengebet und Schlussgebet. Anders als wir das leider aus der Praxis oft kennen, soll hier, nach der Gebetseinladung „Lasset uns beten“ eine kurze Stille gehalten werden, in der sich die Beterinnen und Beter sammeln, sich Gott zuwenden und öffnen, durchaus auch persönliche Anliegen vor Gott bringen. Diese gefüllte Stille ist „participatio actuosa“, tätige Teilnahme der Gläubigen, wie sie das Zweite Vatikanische Konzil wünscht und wie sie kein noch so aktuell formuliertes Gebet aller leisten könnte. In dieser Stille stellen sich die Betenden mit ihrer ganzen Existenz, ihrer Not und ihrer Hoffnung in Gottes Gegenwart und wissen sich dort geborgen. Der lateinische Begriff des Tagesgebets lautet „Collecta“, „Sammlung“ und deutet an, dass das anschliessend laut und vernehmlich gesprochene Gebet diese stillen Gebete der Gläubigen einsammelt und gemeinsam vor Gott bringt. Praktisch heisst dies, dass nach der Einladung zum Gebet und dem Sprechen von Tagesgebet und Gabengebet eine wahrnehmbare Stille einzuhalten ist, die Raum gibt für dieses persönliche Gebet (z.B. ca. 20-30 Sekunden, oder bei einer geübten Gemeinde sogar länger). Durch seine gesammelte Haltung kann der Vorsteher der Feier deutlich machen, dass er nicht etwa den Faden verloren hat, sondern tatsächlich eingeladen hat zum gemeinsamen Beten – und selbst betet. Einzig beim Schlussgebet kann auf diese Stille verzichtet werden, wenn vorgängig eine Kommunionsstille gehalten wird. Auch diese Stille nach der Kommunion dient dem persönlichen Gebet und der Danksagung. Diese Stille sollte über das geschäftige Reinigen des Kelches hinausgehen (die am besten sowieso erst nach dem Gottesdienst gemacht wird, vgl. GORM 163). Auch der Priester sollte sich die Zeit nehmen, nach der Kommunion eine kurze Stille am Vorstehersitz zu halten. Übrigens ist die Kommunionspendung kein idealer Zeitpunkt für Stille, sondern das gemeinsame Essen (und Trinken) des Leibes und Blutes Christi ist der Gemeinschaftsakt par excellence der Liturgie und sollte deshalb – so sehen es sinnvollerweise die liturgischen Regeln vor – durch gemeinsames Singen gestaltet werden (vgl. GORM 86).
Schliesslich kann ein solcher Moment epikletischer Stille auch bei den Fürbitten sein. Einerseits anstelle des gemeinsamen Gebetsrufs am Ende („Wir bitten dich, erhöre uns.“), wobei dieser auch die Funktion der Zustimmung hat, und deshalb nicht darauf verzichtet werden sollte. Besser wäre es, nach der Nennung der einzelnen Anliegen jeweils eine kurze Stille zu halten, die abgeschlossen wird mit „Gott des Lebens“, „Gott, unser Vater“ o.ä., auf die dann der gemeinsame Ruf folgt. Zusätzlich kann als letzte Bitte die Gemeinde eingeladen werden, in Stille persönliche Anliegen vor Gott zu bringen.
Und die Praxis?
In diesem Beitrag wurde häufig die Praxis dem Ideal gegenübergestellt. Dass es zwischen Ideal und Praxis eine Differenz gibt, zeigt, dass es mit der Stille nicht so einfach ist. Stille hat es schwer in der heutigen Zeit. Dennoch ist mehr Stille möglich. Die vorgeschlagenen Momente sind erprobt und lassen sich mit einiger Übung (Stille braucht Übung!) praktizieren, auch wenn der Autor selbst aus Erfahrung weiss, dass es nicht einfach ist.
Besonders anspruchsvoll ist es, wenn Kinder am Gottesdienst teilnehmen und diesen mitgestalten. Auch hier weiss der Autor um die Schwierigkeiten und kennt kein Rezept. Hier müssen KatechetInnen und ReligionspädagogInnen ihre Kompetenzen einbringen. Wichtig wäre, dass die Kinder schon im Religionsunterricht Erfahrung mit Stille gemacht haben, und dass die Stille im Gottesdienst gut angeleitet ist. Dies kann geschehen durch eine erweiterte Form der Gebetseinladung („Stellen wir uns bewusst vor das Angesicht Gottes, bringen wir uns und unsere Bitten in Stille vor ihn. Lasst uns beten“). Im Kontext der Schriftverkündigung können Fragen zum Nach- und Weiterdenken hilfreich sein. Und bei der Stille nach der Kommunion können meditative Impulse helfen. Allerdings muss dies sehr sorgfältig überlegt und gestaltet werden, damit nicht die Stille gerade dadurch zerredet wird.
Die Forderung nach mehr Stille gilt nicht nur für die Eucharistiefeier, sondern für alle Gottesdienstformen, Feier von Sakramenten, Tagzeitenliturgie, Segensfeiern und freiere Formen. Sie lässt sich mit Erwachsenen sicher leichter umsetzen. Aber für alle gilt die Warnung, die in der Kritik Nietzsches ertönt: Nehmen wir uns Zeit zum Schweigen, zum Hören, zum Brüten, damit auch unser Gottesdienst gelingt!
Zum Weiterlesen:
Die gesamte „Grundordnung des Römischen Messbuchs“ (GORM) finden Sie hier:
www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffentlichungen/arbeitshilfen/AH_215.pdf
Hier einige ausgewählte Zitate zur Stille:
GORM 45: Auch das heilige Schweigen ist als Teil der Feier zu gegebener Zeit zu halten. Sein Charakter hängt davon ab, an welcher Stelle der Feier es vorkommt. Beim Bussakt und nach einer Gebetseinladung besinnen sich alle für sich; nach einer Lesung aber oder nach der Homilie bedenken sie kurz das Gehörte; nach der Kommunion loben sie Gott und beten zu ihm in ihrem Herzen. Schon vor der Feier selbst ist in der Kirche, in der Sakristei, im Nebenraum und in der näheren Umgebung angemessenerweise Stille zu halten, damit alle sich auf den Vollzug der heiligen Handlung andächtig und in der gehörigen Weise vorbereiten.
GORM 54: Anschließend lädt der Priester das Volk zum Gebet ein; alle halten zusammen mit dem Priester eine kurze Stille, um sich darauf zu besinnen, dass sie vor dem Angesicht Gottes stehen und um ihre Bitten im Herzen aussprechen zu können. Dann betet der Priester das Gebet, das „Tagesgebet“ („Collecta“) genannt wird, und durch das die Eigenart der Feier zum Ausdruck gebracht wird.
GORM 56: Die Liturgie des Wortes ist so zu feiern, dass sie die Betrachtung fördert. Deshalb muss jede Art von Eile, die der Sammlung hinderlich ist, gänzlich vermieden werden. Der Sammlung dienen auch kurze Momente der Stille, die der jeweiligen Versammlung angemessen sind, in denen durch das Gnadenwirken des Heiligen Geistes das Wort Gottes im Herzen aufgenommen und die Antwort darauf durch Gebet vorbereitet werden soll. Solche Momente der Stille können passenderweise etwa vor Beginn der Liturgie des Wortes, nach der ersten und der zweiten Lesung, schließlich auch nach der Homilie gehalten werden.
Hier finden Sie das Direktorium für Kindermessen:
Eine gute Zusammenfassung der Bedeutung der Stille im Gottesdienst findet sich im Beitrag von Andreas Heinz, Schweigen – Stille, im Band GdK, Teil 3, Gestalt des Gottesdienstes. Sprachliche und nichtsprachliche Ausdrucksformen, 242 – 248.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie Rund um die Liturgie. Weitere Teile:
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