Die Beziehungsqualität großer Fragen – Der Religionsunterricht als Beziehungsgeschehen
In seinen Büchern »Kinder und die großen Fragen« und »Kinder fragen nach Leid und Gott« hat Rainer Oberthür gezeigt, was es konkret heissen kann, mit Kindern im Rahmen der Schule Theologie zu treiben und zu philosophieren. Vielfach unterschätzt der so genannte kindgemässe Umgang mit religiösen Fragen Kinder.
Voraussetzung für einen Dialog und damit einen gelingenden Religionsunterricht ist es, Ängste, Vorstellungen, Hoffnungen und Wünsche von Kindern wahrzunehmen und sich damit ernsthaft auseinander zu setzen. Oberthür geht davon aus, dass die Fragen der Kinder und von Jugendlichen »große Themen« der Menschheit widerspiegeln, besonders die Frage nach dem Leiden, nach der Güte Gottes, die Theodizeefrage, nach dem Umgang mit dem Tod und nach der eigenen Identität. Wie kann man solche Fragen produktiv aufnehmen?
In der Praxis des Religionsunterrichts tun sich insbesondere Anfängerinnen einerseits mit der Didaktisierung komplexer theologischer Grundfragen schwer, andererseits aber auch damit, auf unerwartete Einwürfe von Schülern angemessen zu reagieren oder aber ihre Tragweite überhaupt zu erkennen. Der Hinweis auf die zunehmende Erfahrung und Flexibilität, die sich mit der Praxis einstellte, muss dabei unbefriedigend bleiben.
Beide Schwierigkeiten haben m.E. gleiche Ursachen. Da ist einerseits der Erwartungsdruck, als Lehrer oder Lehrerin »etwas Richtiges« – entweder i.S. kirchlicher Lehre oder eines Zufriedenstellens der Fragenden – parat haben zu müssen, aber auch der Umstand, dass die Direktheit und der Ernst schwer auszuhalten sind. Wenn wir uns solchen Fragen stellen, dann konfrontieren wir uns mit unserer eigenen Begrenztheit und Angst und damit, wie sehr wir selbst noch Kind sind, ohne es uns zuzugestehen.
Wie »grosse Fragen« zum Thema werden
Fragt man Jugendliche und junge Erwachsene nach Themen, die sie gerne besprechen würden, dann werden häufig Tod, meist mit der Zuspitzung auf Gibt es ein Leben nach dem Tod?, oder Okkultismus und Lässt Gott Leiden zu? genannt. Entsprechende Unterrichtsversuche verlaufen häufig deshalb nicht ganz befriedigend, weil sie letztendlich auf einer intellektuell-theologischen, vielleicht noch auf einer religionsvergleichenden Ebene abgehandelt werden. Bevor die Fragen in ihrer Vieldimensionalität geklärt werden, werden schon Antworten bearbeitet. Offen aber bleiben die eigentlichen Beweggründe für solche Themen und die existenzielle Betroffenheit. Als eine grundlegende Dimension »grosser Fragen« sehe ich etwas an, was ich hier »Beziehungsqualität« nennen möchte. Die Fähigkeit der Religionslehrerin, des Religionslehrers, diese aufzuspüren, ist massgeblich für eine gelingende Kommunikation im Religionsunterricht.
Wonach fragt ein Kind, wenn es darum geht, wo die verstorbene Oma jetzt ist? Es fragt nach der Beziehung, nämlich: Wie gehe ich mit dem Verlust um? Wie darf ich trauern? Wie viel ist das gemeinsam Erlebte wert? Kann ich die Verbindung aufrechterhalten? etc.
Was bedeutet es, wenn Jugendliche etwa nach dem Sinn des Lebens fragen? Hat es mit Perspektivlosigkeit zu tun, mit familiären Problemen, mit starken Gefühlserlebnissen, mit Krankheit und Tod eines Gleichaltrigen? Was ist es genau, was an dieser Frage interessiert?
Eine angemessene Reaktion auf solche Fragen muss innerhalb dieses Beziehungskontextes geschehen und besteht nicht immer in einer »Antwort«, sondern zuerst einmal im Verstehen und Nachfragen, und das bedeutet im Ernstnehmen und Offenhalten der Frag-Würdigkeit; dann vielleicht im gemeinsamen Kreieren von Bildern und Vorstellungen, und sicherlich in einer redlichen Antwort im Sinne dessen, was die erwachsene Person selbst glaubt. Um dieser Beziehungsqualität auf die Spur zu kommen, bedarf es nicht-diskursiver, z.B. erzählender oder darstellender Formen des Gefühlsausdrucks. Eine Problematik liegt darin, dass Erwachsene es nicht gewöhnt sind, die beziehungsmässige Tragweite ihrer eigenen Fragen wahrzunehmen. Auch Studierende diskutieren mit Vorliebe und Ausdauer über die Frage: Gibt es ein Leben nach dem Tod?,ohne sich der Bedeutung für ihre eigene Erfahrung zu stellen. Wird die konkret existenzielle und gefühlsmässige Komponente außer Acht gelassen, kann auch eine positive Antwort (»Christen ist ewiges Leben zugesagt« o.Ä.) den Kern des Gefragten ganz verfehlen. Um zu verdeutlichen, was mit der Beziehungsqualität großer Fragen gemeint ist, bietet sich der Begriff » Thema«, wie er in der Themenzentrierten Interaktion (TZI) verwendet wird, an. Thema heißt hier nicht vorgegebener Inhalt oder Lernstoff, sondern ist gebunden an die Komponenten »Ich« und »Gruppe«. In der TZI drückt das Thema die Zusammengehörigkeit von Sachen, Menschen und Beziehungen aus (Langmaack, 59-69). Konkret gesprochen: Grosse Fragen sind in diesem Sinne nicht nur theologische Sachprobleme, sondern existenzielle Lebensfragen, die aus Erfahrungen resultieren und einen Deutungsbedarf signalisieren und die in ein Beziehungsgeflecht – hier in den Religionsunterricht – hineingestellt werden.
In der TZI wird weiterhin zwischen kleinen und großen Themen unterschieden; ein kleines Thema ist demnach nur eine kurze Zeit lang aktuell, z.B. eine gemeinsame Unternehmung, während ein großes Thema über einen längeren Zeitraum immer wieder auftaucht. Eine lebendige Beziehung hängt vor allem davon ab, tragfähige Themen entdecken und gestalten zu können.
Diese Überlegungen sind für den Religionsunterricht, als Beziehungsgeschehen begriffen, äusserst hilfreich. Grosse Themen beschränken sich nicht auf wenige Unterrichtsstunden, sondern werden immer wieder virulent. Sie ergeben sich aus dem Beziehungsgeschehen ausserhalb und innerhalb der Schule.
Theologie treiben, Theologie vermitteln und theologisch kommunizieren im Klassenzimmer setzt die Bereitschaft voraus, gemeinsame Themen zu suchen und zu bearbeiten.
»Grosse Fragen« der Schüler und Schülerinnen aufzugreifen bedeutet, sich dem ganzen Ernst ihrer Lebenssituation auszusetzen; aber auch, sich mit den eigenen ungelösten Fragen zu konfrontieren und sich eigener Grenzen bewusst zu werden. Ich gehe davon aus, dass die Beziehungsqualität »grosser Fragen« ein Schlüssel zur Wahrnehmung und Bearbeitung gemeinsamer Themen ist. Es geht zunächst darum, Sensibilität für eine religiöse Ausdrucksweise von Schüleräusserungen zu entwickeln, die die Frag-Würdigkeit nicht vorschnell überdeckt, sondern offenhält. Der erste Schritt zu dieser Sensibilität ist die Bewusstwerdung der eigenen religiösen Situation der Lehrperson.
Schreibwerkstatt zu »grossen Fragen«
Die im Folgenden dokumentierten Schritte sind in einer Seminarsituation entstanden und hatten das Ziel, die Beziehungsqualität grosser Fragen bei sich selbst und bei anderen wahrzunehmen; die Methode der Schreibwerkstatt ist in dieser Weise auch für Jugendliche geeignet.
- In einem ersten Schritt werden die Teilnehmerinnen dazu aufgefordert, ein bis zwei »grosse Fragen« zu notieren; diese werden in der Art eines Clusters für die Gesamtgruppe gesammelt und geordnet.
- Dem eigentlichen Schreiben sollte eine Konzentrations- oder Stillephase vorangehen, in der man sich an eine Situation zu erinnern versucht, in der sich eine grosse Frage gestellt hat. Die Aufgabe besteht darin, eine entsprechende Geschichte oder Begebenheit aufzuschreiben. Diese sollte aus der eigenen Erfahrung stammen, aber möglichst in der dritten Person aufgeschrieben werden. (15-20 min).
- In kleinen Gruppen von 2 bis 3 Personen werden die Texte vorgelesen. Die Gruppe entscheidet, ob und welchen Text sie der gesamten Gruppe vorlesen möchte. Die Texte sollten nicht von der Verfasserin/dem Verfassser präsentiert werden.
- Nachdem eine Reihe von Texten präsentiert worden sind, wählt die Kleingruppe einen davon aus und versucht zunächst die Fragestellung zu formulieren, die ihrer Meinung nach dem Text zugrunde liegt. Im nächsten Schritt werden alle möglichen Antworten oder Reaktionen, die für die Situation denkbar sind, gesammelt. (»Stell dir vor, du würdest die Hauptperson treffen. Wie würdest du handeln, was würdest du sagen?«) Bei genügend grossem Zeitbudget könnten auch Rollenspiele in Szene gesetzt werden.
- In der Reflexion geht es darum, die Beziehungsdimension der Frage noch einmal zu formulieren, und ebenso die der möglichen Antworten. Geht die Antwort auf die Beziehung ein und wird die Frag-Würdigkeit des Problems offen gehalten?
Die Methode der Schreibwerkstatt ist eine Weise, Inneres zum Ausdruck zu bringen. In diesem Fall dient die formale Vorgabe (nicht in der 1. Person schreiben) und das Vorlesen durch eine andere Person dem Schutz und der Distanzierung.
Wir haben also die Schritte Ausdruck (Formgebung) und Vertiefung bzw. Deutung. Die Form und die Distanzierung schaffen die Möglichkeit, zu sich selbst Stellung zu nehmen, sich zu verändern, neue Einsichten und Erfahrungen zu integrieren. Hier zwei Textbeipiele:
Text 1
Meine Schwiegereltern haben immer schwer und viel gearbeitet und sich nie etwas gegönnt. Mein Schwiegervater hat seine Frau immer vertröstet und gesagt: » Wenn ich 60 bin und in Rente gehe, holen wir alles nach, dann fahren wir in Urlaub, suchen uns ein gemeinsames Hobby und verbringen viel Zeit zusammen.«
Kurz nach seinem 60. Geburtstag ist mein Schwiegervater an Krebs erkrankt und war während der letzten 3-4 Jahre 16 mal im Krankenhaus. Zu Hause fühlt er sich meistens müde und schlapp und für grössere Ausflüge fehlt ihm die Kraft. Die Träume und Hoffnungen bezüglich ihres Lebensabends mussten beide aufgeben.
Als Themen wurden erarbeitet: Sinn des Lebens, Leben nach dem Tod. Nimmt man die Beziehungsdimension des Textes ernst, so ergeben sich konkretere Fragen, z.B.:
- Wie gehe ich mit »ungelebtem Leben« um?
- In welcher Weise kann und soll ich zu Menschen mit »ungelebtem Leben« in Beziehung treten? Kann ich trösten oder aufmuntern?
- Lohnt es sich, »Leben aufzuschieben«? Worin liegt das Sinnpotential dieses Lebens?
Was in diesem Text zum Ausdruck kommt, ist nicht nur die Unwägbarkeit menschlicher Pläne und des menschlichen Lebens, sondern die Grenzen und Unsicherheiten menschlicher Beziehungen, in diesem Fall zwischen Schwiegereltern und -kindern. Wie ist eine Reaktion möglich? Als Vorschläge wurden genannt: Kontakt zu den Schwiegereltern pflegen und sie aufmunternd begleiten; Trauer zulassen; an schöne gemeinsame Erlebnisse erinnern. Fertige Antworten oder Verdrängung, etwa der Krankheit, missachten die Frag-Würdigkeit, die in der Tat nicht aufgelöst werden kann. Wenn aber die Antwort im konkreten Beziehungshandeln liegt, so bedeutet das keine Lösung im Sinne einer Auflösung, sondern im Sinne eines gemeinsamen Ertragens von Spannung, Ungewissheit und Unsicherheit. Daran schloss sich eine theologische Diskussion über den Satz »Der Sinn des Lebens liegt im Leben selbst« an. Inwiefern ist dies richtig, und wie würde sich dies in einem konkreten Lebenszusammenhang umsetzen?
Text 2
Immer wenn sie die Nachrichten sah, wurde sie furchtbar traurig. Sie lag auf dem Bett, eine Tüte Chips neben sich und sah, wie kleine Kinder schmutzig und abgemagert im Dreck saßen und eine Handvoll Reis assen. Dann die Bilder vom Krieg. Entstellte Kindergesichter. Kinder, deren Arme und Beine im Minenfeld zerfetzt wurden. Bilder aus russischen Kinderheimen, wo behinderte Kinder in ihrem Bettchen dahin vegetierten, bis sie schliesslich vor Einsamkeit, Hunger oder Krankheit sterben. Niemand ist da, der sich um sie kümmert. Der Staat hat kein Geld. Nicht für Medikamente noch für Ärzte, Schwestern oder Essen. Ihr war schlecht! Vor Traurigkeit und aus schlechtem Gewissen heraus: Warum ging es ihr so gut und anderen so hoffnungslos schlecht? Sie fühlte sich hilflos und wusste doch, dass sie eigentlich mehr tun könnte; sei es nur Geld zu spenden. Sie fing an, Trans-Fair-Kaffee zu kaufen, obwohl es ihr lächerlich vorkam. Ändern würde sich dadurch nichts.
Als grundlegendes Thema des Textes wurde genannt: Warum gibt es Leid? Kann man die Welt verändern? Der Text drückt Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit und Verunsicherung, aber auch Isolation aus. Er stellt die Frage nach dem Wert und Sinn des eigenen alltäglichen Handelns, danach, ob man glücklich oder zufrieden sein darf, wenn andere es nicht sein können. Soll man sich nicht besser auf das eigene Privatleben zurückziehen statt sich mit dem Leid in der Welt zu konfrontieren?
Mögliche Reaktionen auf diese Situation zu finden erwies sich als schwierig. Es zeigte sich, dass dieser Text die Grundstimmung vieler in der Gruppe ausdrückte. Vor diesem Hintergrund konnte eine fruchtbare theologische Diskussion entstehen. An einer solchen Stelle könnte vielleicht die Bildkraft der Reich-Gottes-Gleichnisse angeboten werden, Bilder des Glaubens an das Große im Kleinen.
Deutlich wurde, dass christlicher Glaube eine Entscheidung im Sinne einer aktiven oder passiven Lebenshaltung impliziert und dass die unauflösliche Spannung, die in diesem Text zum Ausdruck kommt, nicht allein ausgehalten werden kann, sondern gelebte Beziehung braucht. Dort ist auch der Ort, wo sich die Antworten auf die grossen Fragen erweisen. Die theologischen Gespräche im Seminar haben durch diese Vorbereitung an Dichte enorm gewonnen.
Kriterien für religiöses Sprechen
Oberthür hat die »Beachtung der FragWürdigkeit des Glaubens an Gott« (1998, 32) als ein zentrales Kriterium für religiöses Sprechen im Religionsunterricht genannt. Man könnte weitergehend sagen, dass dieses Kriterium für alle Lebensfragen gilt. Es ist keineswegs ein Paradox, dass die Bekräftigung und Durchdringung von Frag-Würdigkeit notwendig ist, um vorschnelle glättende Antworten zu vermeiden. In der symboldidaktischen Diskussion wird darauf hingewiesen, dass im Grundschulalter bis hin zur 5. und 6. Klasse das wörtliche Verstehen von Symbolen und Metaphern eine große Rolle spielt. Deshalb sei es kaum möglich, Symbole als Symbole in ihrem Verweisungssinn zu verstehen (vgl. Schweitzer). Auch hier kann die Beziehungshaftigkeit, auf die Symbole verweisen, zu einer Vertiefung führen.
Eine Untersuchung von Gottesbildern von Grundschulkindern (Weber 1997), die aufgefordert wurden, nach einer Fantasiereise, in der sie mit einer Rakete in den Himmel geschickt wurden, zu malen, was sie beim Aussteigen aus der Rakete gesehen hatten, zeigte, dass diese Bilder zum einen mit einem in Grösse und Form sehr unterschiedlich ausfallenden Gott ausgestattet waren, zu einem überwiegenden Teil aber auch mit Nahestehenden: Eltern, Geschwister, Grosseltern, Haustiere etc., ebenso mit freundlichen Engeln.
Himmel ist der Ort, wo Gott ist – und liebe Menschen. Sicher wird hier, entsprechend auch der Vorgabe der Fantasiereise, Himmel als ein konkreter Ort verstanden, der irgendwo »oben« liegt; die Bedeutungstiefe erschliesst aber nicht in der Ortsangabe, sondern in den erlebten oder erwünschten Beziehungen, die in diese bildlichen Vorstellungen mit eingebracht werden.
Nicht das wörtliche Verstehen ist hier die Herausforderung, sondern das, was an Beziehungserfahungen, Beziehungsfragen und -hoffnungen damit verbunden ist. Schule – und darin der Religionsunterricht – bietet Felder wichtigen Beziehungsgeschehens. Hier werden Fragen artikuliert. Religionsunterricht ist aber auch der Raum, in dem sich auf Dauer eine Antwort bewähren oder erweisen muss.
Der Beitrag ist zuerst in nahezu unveränderter Form in den Katechetischen Blättern (KatBl 124 (1999), 273-277) erschienen
Literatur
- Langmaack, Barbara, Themenzentriete Interaktion: Einführende Texte rund ums Dreieck, Weinheim 1996.
- Oberthür, Rainer, Kinder fragen nach Leid und Gott. Lernen mit der Bibel im Religionsunterricht, München 1998.
- Ders., Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, München1999.
- Schweitzer, Friedrich, Symbole im Kindes- und Jugendalter. Mehr Fragen als Antworten, in: Der evangelische Erzieher 1 (1993) 16-23
- Weber, Monika, Gottesvorstellungen von Grundsehulk.indem, Landau l 997 (Examensarbeit: unveröff. Manuskript)