«Wort des lebendigen Gottes»
Dieser Zuruf nach der alttestamentlichen Lesung oder aus Briefes des Neuen Testaments ist zuweilen eine Provokation. Sollte man das besser nicht ersetzen oder weglassen? An der Anstössigkeit des biblischen Textes ändert das allerdings nichts. Was also könnte der Sinn dieser Formel sein?
Die Formel “Wort des lebendigen Gottes”
Was vorausgeht, ist entscheidend: das verkündigte Wort Gottes. Es wird in den biblischen Büchern, die von Menschen geschrieben sind, aufbewahrt. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und wird jetzt in dieser Feier von einer Lektorin oder einem Lektor zu uns gesprochen. Aber es ist nicht das Wort der Sprechenden oder Information, sondern Gottes Wort in Menschenwort. So versteht es Paulus (vgl. 1 Thess 2,13) und das Zweite Vatikanische Konzil (vgl. Konstitution über die Offenbarung Dei Verbum Nr. 11-13).
Anstössiges Wort
Gegen die Ansage «Wort des lebendigen Gottes» wird im Interesse aufrichtigen Mitsprechens zuweilen anderes gestellt: “Das sind die Worte der heutigen Lesung” oder Ähnliches. Der Wechsel zeigt: Lektoren (und nicht nur sie!) haben mitunter Mühe, das gerade Gelesene als Wort Gottes zu begreifen. Also tauschen sie gewissermassen der Ehrlichkeit halber die unbequeme und starke Ansage “Wort des lebendigen Gottes” gegen eine neue aus. Aber ist das Problem damit gelöst?
Anstössige biblische Texte
Vermutlich gilt das Unbehagen ja weniger der Formel als dem zuvor Gelesenen. Kann das Gottes Wort sein – für uns, für mich, hier und heute? Es gibt wirklich Lesungen, die stossen. Da gibt es nichts zu verharmlosen. Manches kann man erklären: Gottes Wort ist in eine geschichtlich viel frühere Zeit hinein ergangen, so dass sich kaum beim ersten Hören erschliessen kann, was sein Handeln und sein Wort in dieser Zeit bedeutete – und dann doch auch uns etwas sagen könnte. Vieles muss man im Kontext der ganzen Schrift sehen. Doch manches wird noch immer anstössig bleiben. Vielleicht muss es ausgehalten werden.
Unterscheidendes Wort
Oder soll gerade das Anstössige anstacheln, die eigene Gegenwart kritisch zu sehen und nach dem lebendigen Gott hier und heute zu rufen? „Denn lebendig ist das Wort Gottes, kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt durch bis zur Scheidung von Seele und Geist, von Gelenk und Mark; es richtet über die Regungen und Gedanken des Herzens” (Hebr 4,12). Diese Scheidung und Unterscheidung ist keineswegs Selbstzweck. Sie ist die andere Seite der befreienden Botschaft. Befreiung ist ein Vorgang der Ablösung, des Zurücklassens. Der befreiende Auszug aus Ägypten war gleichzeitig das Zurücklassen der Fleischtöpfe. Das Wort Gottes an Moses war eine arge Herausforderung wenn nicht Überforderung. Aber das Wort hat sich als lebendig, stark und wirksam erwiesen, als befreiende Kraft.
Antwortendes Wort
Wie das Wort Gottes durch die je neue, je aktuelle Verkündigung wirken wird, oder welche Momente trotz oder vielleicht gerade in ihrer Zeitbedingtheit einen Anstoss für Menschen unserer Tage darstellen, das ist kaum vorher auszumachen. Der zündende Funke, die Kraft des Wortes hängt nicht an einzelnen historisch bedingten Worten im Plural oder Vorstellungsmustern. Die Lebendigkeit Gottes ist es, die sein Wort lebendig werden lässt – auch heute noch. Es geht um das Wort im Singular, das Wort in Person. Deshalb ist die Formel im deutschsprachigen Lektionar besonders reich und treffend: “Wort des lebendigen Gottes”. Darauf zu antworten mit der Formel «Dank sei Gott» ist ein Bekenntnis zu dem, der diese lebendige Kraft noch heute seinem Wort schenkt. Immer drückt der Dank auch die Bejahung dessen aus, dem gedankt wird.
Eine nachkonziliare Neuerung
Vor dem Konzil gab es diesen Zuruf nicht. Mit der Neuauflage der Messlektionare (ab 2018) wird sie entsprechend der Pastoralen Einführung in der Messlektionar von 1981 unter den jeweiligen Lesungen stehen. Es heisst dort: „Am Ende jeder Lesung soll für den Vorlesenden die Formel ‚Verbum Domini’ abgedruckt sein bzw. die entsprechende Formel je nach den örtlichen Gewohnheiten [hier ist in der authentischen deutschen Ausgabe des Messlektionars ergänzt: ‚Wort des lebendigen Gottes’], um so den Antwortruf der Gemeinde zu erleichtern.” (Pastorale Einführung Nr. 125)
Wahrscheinlich ist das überraschend, aber man könnte den Zuruf “Wort des lebendigen Gottes” sogar weglassen – und die Lesung bliebe im Ereignis der liturgischen Verkündigung noch immer, was sie sein will und ist: Wort Gottes. Die Lesung bliebe dann jedoch ohne Antwort, Liturgie aber ist Dialog zwischen Gott und den Menschen. Die deutschsprachige Formel führt nicht zur Antwort auf die menschlichen Worte im Plural, sondern zu Gott selbst, zum lebendigen Gott. Deshalb ist diese Formel stark.
„’Lebendiger Gott’ ist ein theologischer Topos [= Ort: Bezugspunkt], der beide Testamente von innen heraus miteinander verbindet.
Im Alten Testament steht er, mit Schwüren .. und Gebeten .. verbunden, für das Wissen um Gottes überwältigende Macht .., der, als Krieger gut .., als Helfer heilig .., sich selbst sein Volk erschaffen hat .., um von ihm nie mehr zu lassen .., und sich in seinem Volk Geltung verschafft, indem er seine Stimme erhebt, die Israel am Sinai bei der Offenbarung der Zehn Gebote ‚mitten aus dem Feuer’ gehört hat, nicht um zu sterben, sondern um zu leben (Dtn 5,26).
Von dieser kraftvollen Theologie profitiert das Neue Testament, wenn es im ‚lebendigen Gott’ den majästetischen Herrscher wiedererkennt .., den Schöpfer des Himmels und der Erde .., den Richter, der seiner Gerechtigkeit umfassende Geltung verschaffen wird .., und wenn es diesen einzig wahren, den gefährlich nahen und ins Weite rettenden Gott als den Vater Jesu bekennt .., der zum Heil von Juden und Heiden seinen Sohn von den Toten auferweckt hat .., damit das Evangelium kraftvoll und kritisch verkündet wird (Hebr 4,12f).”
Thomas Söding
Dieser Beitrag ist Teil der Serie Rund um die Liturgie. Weitere Teile:
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