Digitale Jugendarbeit

Gerade in der Arbeit mit Kindern- und Jugendlichen wird die Digitalisierung unserer Welt schnell sichtbar. Das Smartphone ist der vermutlich meistgenutzte Gegenstand im Alltag. Die Kommunikation und der Umgang miteinander werden durch digitale Technologien wie Messenger und soziale Medien geprägt. Der Zugang zu medialen Inhalten und Wissen hat sich durch Suchmaschinen, Streamingdienste und Videoplattformen verändert. Junge Menschen wachsen selbstverständlich mit digitalen Technologien auf. Sie gehen nicht online – sie leben auch online. Die Digitalität ist fester Teil ihrer Lebenswelt. Kurzum: der Wandel von Kultur und Gesellschaft schlägt sich im Arbeitsfeld der Jugendarbeit besonders nieder.

Die SINUS-Jugendstudie 2020 attestiert die Wichtigkeit des Smartphones und des Internets.

 

Grundlagen

Darüber hinaus zeigt sie aber auch, dass sich „alle Jugendlichen […] Halt und Orientierung [wünschen]. Die befragten Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren betonen durchweg, wie wichtig ihnen soziale Werte im Leben sind – vor allem Familie, Freunde, Vertrauen, Ehrlichkeit und Treue. Darin kommt der Wunsch nach sozialer Geborgenheit, Halt und Orientierung zum Ausdruck.“ (Calmbach et al., S. 31).

In ihrer Freizeit sind sie am liebsten mit ihren Freund_innen zusammen und draußen. Aber auch „Zeit am Handy“ spielt– vor allem Social Media: YouTube-Videos schauen, Fotos bzw. Storys bei Instagram oder Snapchat posten und Freund_innen über WhatsApp schreiben– eine wichtige Rolle.

Vorgehen

„Niemand möchte mehr auf die Errungenschaften der Digitalisierung und die damit verbundenen „neuen“ persönlichen Möglichkeiten verzichten. Auf der Habenseite stehen für die Jugendlichen (bildungs-, geschlechts- und lebensweltunabhängig): jederzeitige Kommunikation bzw. jederzeitiger Kontakt mit Freund*innen, schnelle und überall verfügbare Informationen, moderne Technologien in der Schule, Entertainment und Convenience.“ (Calmbach et al., 320)

„Zeitfresser“, Ablenkung von wichtigeren Dingen, Gefahr von Fake News und Fake Reality, Forum für Selbstdarsteller*innen, Vereinzelung. Datenschutz und -abgriff werden ebenfalls angesprochen, wenn auch nachrangig. Im Gesundheitsbereich betreffen die Erwägungen meist mögliche psychische Konsequenzen (Sucht), selten physiologische Aspekte (Kopfschmerzen, Augenleiden, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Strahlenbelastung).“ (Calmbach et al., 321). Damit zeigt sich eine zweiseitige Sensibilität der jungen Menschen im Umgang mit digitalen Medien: Sie nutzen die Potenziale der Digitalität, um ihre sozialen Bedürfnisse, ihr Lernen und ihre Freizeit zu gestalten. Gleichzeitig wissen sie um die Herausforderungen einer digitalen Gesellschaft und eines übertriebenen Medienkonsums.

Diese Herausforderungen und Potenziale eröffnen sich ebenfalls für das Feld der evangelischen Jugendarbeit. Jugendarbeit hat den allgemeinen Auftrag, die persönliche und soziale Entwicklung junger Menschen zu unterstützen – und im spezifisch christlichen Kontext „als mündige und tätige Gemeinde Jesu Christi das Evangelium den jungen Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit zu bezeugen“ (OEJ Nr. 1, 1).
Um dem Anspruch, mündige und tätige Gemeinde in der Lebenswirklichkeit zu sein, auch im 21. Jahrhundert gerecht zu werden, bedarf es eines Updates der Praxis kirchlicher Jugendarbeit, um in der digitalen Lebenswelt der jungen Menschen präsent und sprachfähig zu werden. Einige haben sich bereits auf dem Weg gemacht und spannende Projekte initiiert, die neue Zugangsweisen ebendort ermöglichen, wo die Heranwachsenden sich einfinden. Oft sind es Mitarbeitende, die eine persönliche Affinität zu digitalen Inhalten, Gaming oder Mediengestaltung haben. Sie haben die Lust und den Mut, sich aus den traditionellen analogen Kontexten der kirchlichen Jugendarbeit heraus zu begeben und Neues zu wagen.
Diese hohe persönliche Neigung und digitale Kompetenzen gehören nicht zum Standardrepertoire der Fachkräfte und Ehrenamtlichen in der Kinder- und Jugendarbeit. Eine Hemmschwelle besteht für manche Mitarbeitende darin, dass sich die analogen Methoden der Jugendarbeit nicht direkt in den digitalen Raum übertragen lassen. Die eigene (religions-)pädagogische Kompetenz – oft über viele Jahre aufgebaut – muss weiterentwickelt werden und manche digitale Kompetenz vielleicht ganz neu gelernt werden. Das ist natürlich mühsam und bei teilweise technisch-steinzeitlicher Ausstattung kirchlicher Einrichtungen auch frustrierend. Manche fühlen sich vielleicht auch abgehängt, wenn sie sich zu neuen technischen Entwicklungen positionieren oder neue Medien (z.B. VirtualReality) nutzen sollen, die sie nicht kennen. Es benötigt Räume, in denen Erfahrungen mit digitaler Jugendarbeit gemacht werden können. Diese Räume tun sich gerade in Zeiten der Coronapandemie mit vermehrten digitalen Kontakten nahezu zwangsweise auf.

Für die Entwicklung einer digitalen kirchlichen Jugendarbeit braucht es nun zusätzlich auch die Räume der Reflexion, um die neuen Ansätze konzeptionell zu prüfen und weiter zu entwickeln.

Jugendarbeit als Bildungsaufgabe (von Kirche)

Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse durch die Digitalisierung wird die Forderung nach einer „digitalen Bildung“ in allen Bereichen von Bildung stark gemacht. Doch ist dies nicht trivial, wie Brüggen 20191 aufwirft. „Denn wenn die fortschreitende Durchdringung aller Lebensbereiche mit digitalen Medien zur Folge hat, dass auch im Bildungsbereich digitale Medien genutzt werden sollen, dann steckt darin weder ein bildungstheoretischer Anspruch noch eine Innovation im Kontrast zu den bildungstechnologischen Bemühungen der vergangenen Jahrzehnte, wie beispielsweise E-Learning, virtuelle Klassenzimmer oder Blended Learning, also die didaktisch aufbereitete Kombination von On- und Offline-Lernphasen“.
Er stellt die Frage, inwiefern eine „digitale Bildung“ nicht mehr leisten müsse, als das Gegebene.

Der Begriff Bildung weist eine Dialektik auf, wie sie Rühle (2018, 11) verdeutlicht, die bis heute nicht aufgelöst ist. Der Begriff verweist einerseits darauf, „den einzelnen Menschen zu vernünftiger Selbstbestimmung zu befähigen“, die sich in einem „reflektierten Umgang mit sich selbst, der Welt und seinen Mitmenschen“ ausdrückt. „Andererseits ist im Bildungsbegriff auch ein Verfügbarmachen der Individuen für gesellschaftliche Zwecke enthalten, in der Regel als Arbeitskräfte.“ (Brüggen 2019),

Es liegt also in einem Spannungsfeld der reflexiven Zugriffe auf Selbst- und Weltverhältnisse und konkret nutzbare Inhalte.

Diese Ambivalenz zeigt sich in der Praxis der  kirchlich verantworteten Jugend- und Bildungsarbeit z.B. in den Ausbildungsformaten ehrenamtlicher Jugendmitarbeitenden oder in den Gruppen, Projekten und Freizeiten. Erstere Maßnahmen qualifizieren Jugendliche für die ehrenamtliche Arbeit in den Kirchengemeinden und den Jugendverbänden; die Freizeit- und Jugendbildungsmaßnahmen hingegen dienen primär dem reflektierten Umgang mit sich selbst, der Welt und den Mitmenschen.

Insgesamt stellt sich demnach innerhalb dieser gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse die Frage, welche Kompetenzen in der digitalen Welt für eine selbstbestimmte Lebensführung wie auch für eine auskömmliche Teilhabe am Arbeitsleben hilfreich sein werden.

Inwiefern kann kirchlich verantwortete Jugendarbeit Kompetenzen für ein Leben unter den Bedingungen der Digitalität aufbauen und stärken? Dahinter mag sich auch die Frage verbergen, was das Interesse (kirchlicher) Jugendarbeit sein könnte, sich an dieser Bildung zu beteiligen.

Drei Aspekte: Als Werkzeug, als Aktivität und als Inhalt

In den europäischen Leitlinien zur digitalen Jugendarbeit lassen sich drei Vorgehensweisen der Integration digitaler Technologien in die Jugendarbeit entnehmen: als Werkzeug, als Aktivität und als Inhalt. (vgl. The European Guidelines for Digital Youth Work)

Diese drei Aspekte von Digitalisierung passen auch zu kirchlicher Jugendarbeit, denn sie beschreiben Möglichkeiten der Partizipation, Mitgestaltung und Reflexion. Für die kirchliche Jugendarbeit reflektieren wir diese Formen auch aus den normativen Bestimmungen der Theologie, um tatsächlich “mündige und tätige Gemeinde“ zu sein. Den Bezugspunkt stellt der gelebte christliche Glaube dar, implizit und explizit, mit all seinen Facetten. Zentral erscheinen uns für digitale Jugendarbeit: Die Gottebenbildlichkeit aller Menschen, das Doppelgebot der (Nächsten-)Liebe und die Rechtfertigungslehre.

Digitale Jugendarbeit als Werkzeug meint dabei, die Digitalisierung der Jugendarbeitsangebote, um sie zugänglicher, aktueller und passgenauer zu machen. Beispielsweise sind dies

  • Partizipationsmöglichkeiten, die durch digitale Tools geschaffen werden (z.B. Abstimmungen und Votings, Jugendgremien über OpenSlides, barrierefreier Zugang zu Content, Teilnahmemöglichkeit an Aktivitäten über Videokonferenz für Jugendliche aus ländlichen Räumen ohne ÖPNV…)
  • Öffentlichkeitsarbeit und Content in Social-Media-Kanälen, um junge Menschen zu erreichen. (z.B. Information über Aktionen, Impulse zu Glaubens- und Lebensfragen, Blogs oder Videos…)
  • Online-Räume, um mit Jugendlichen in Austausch zu kommen (z.B. Beratungsangebote, Foren, Online Seelsorge, digitales Streetwork…).

Digitale Jugendarbeit als Aktivität wird die praktische Tätigkeit mit digitalen Technologien bezeichnet, die auf dem Prinzip Learning by Doing beruht. Dies können unter anderem sein:

  • Spielgruppen zur Förderung einer positiven Kultur digitalen Spielens (z.B. digitale Spieleabende, Spieletreffs)
  • Making-Projekte zur Entwicklung relevanter Kompetenzen und gemeinschaftlich digitale Inhalte produzieren (z.B. Jugend-Podcast, Online Adventskalender, Youtube Andacht, Webseiten, Selbstlernkurse…)

Digitale Jugendarbeit als Inhalt bedeutet, Themen der Digitalisierung mit klassischen Methoden der Jugendarbeit zu reflektieren. Dazu gehören:

  • Aspekte der Online-Beziehung, der Kommunikation und dem Miteinander (z.B. HateSpeech, Umgang mit diskriminierenden Verhaltensweisen, Vergebung und ShitStorms…)
  • Themen im Zusammenhang der Digitalisierung und notwendigen Kompetenzen (z.B. Fake News und Wahrheitsfrage, Algorithmen und Menschenbild)
  • Gesellschaftliche Fragestellungen, die angesichts der Digitalisierung neu zu denken sind: Nachhaltigkeit, Partizipation und Bürgerbeteiligung, Veränderungen der Arbeitswelt und Gerechtigkeit in Bezug auf soziale Grundsicherung…
  • „Durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse werden Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten.“ Das bedeutet für die kirchlichen Jugendverbände auch, sich anwaltschaftlich im Sinne der jungen Menschen in die politischen Prozesse einzubringen. Es sind sowohl Themen denkbar, die Jugendliche in ihrem digitalen Raum begegnen (Fake News, Gewalt etc.), als auch digitale Zukunftsfragen (z.B. Ausbau der Infrastruktur, gerechter Zugang zu digitaler Bildung etc.)

Ausblick

Akteur_innen der kirchlichen Jugendarbeit nehmen diese Veränderungsprozesse bereits sehr stark wahr und überlegen, welche Werkzeuge (z.B. OpenSlides) hilfreich sind, welche Aktivitäten neue und auch religionspädagogische Kompetenzen (z.B. Perspektivwechsel, interreligiöser Dialog) in den Bedingungen der Digitalität fördern und welche Inhalte im Zusammenhang zwischen Religion und Digitalisierung (z.B. künstliche Intelligenz, virtuelle Lernräume) in den Blick genommen werden können.

Einige Pioniere sind schon weit fortgeschritten in der digitalen Jugendarbeit. Für ein Update der Jugendarbeit sind jetzt auch die Träger gefragt. Es braucht gute Rahmenbedingungen in Form von technischer Ausstattung, Fortbildung, Arbeitszeitkontingenten und vor allem: eine wohlwollende aufgeschlossene Haltung. Denn Digitalität ist keine Modeerscheinung und digitale Jugendarbeit kein Nice to Have. Es geht um einen wesentlichen Teil der Lebenswelt junger Menschen.