Schwestern und Brüder – Angesprochen, nicht nur mitgemeint
Es ist ein Unterschied, ob man bloss mitgemeint ist oder ausdrücklich angesprochen wird. In der Praxis durch Lektorinnen und Lektoren schon grossteils umgesetzt, werden jetzt auch im neuen offiziellen Mess-Lektionar Brüder und Schwestern angesprochen.
Wohl niemand zweifelt heute daran, dass der Apostel Paulus vor fast zweitausend Jahren nicht nur an die Männer in den christlichen Gemeinden, z.B. in Rom, Korinth oder Thessalonich, schrieb, sondern auch an die Frauen dort. Manchmal spricht er die Frauen sogar ausdrücklich an. Meist jedoch schreibt er alle an mit dem griechischen „adelphoi“: „Brüder“. Im damaligen Sprachgebrauch waren die Schwestern in dieser Anrede nicht ausdrücklich angesprochen, sondern mitgemeint, so wie sie auch in unserer Sprache meist mitgemeint waren oder sind, wenn von Studenten, Beamten, Arbeitern, Freunden, Lesern die Rede war oder ist. Aber gerade bei den biblischen Lesungen muss sehr grosser Wert darauf gelegt werden, dass jede und jeder Einzelne nicht nur das Gefühl hat, dass er oder sie mitgemeint ist, sondern dass er oder sie persönlich angesprochen und direkt betroffen ist.
Paulus schrieb an Männer und Frauen
In der revidierten Einheitsübersetzung aus dem Jahre 2016 werden deshalb die Schwestern in vielen Fällen (leider nicht in allen), in denen sie bisher nur „mitgemeint“ waren, nun ausdrücklich genannt. Jetzt steht in der Einheitsübersetzung, was Paulus damals beabsichtigte. Er wollte Männer und Frauen ansprechen, und zwar als Brüder und Schwestern. Paulus redete seine Hörerinnen und Hörer als Geschwister an, weil er überzeugt war, dass sie dazu bestimmt seien „an Wesen und Gestalt seines [Gottes] Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene unter vielen Brüdern [und Schwestern!] sei.“ (Röm 8, 29) Durch die Verbundenheit mit dem Sohn Gottes, mit Jesus Christus, sind alle Söhne und Töchter Gottes. Im Heiligen Geist, den wir empfangen haben, können wir zu Gott rufen: „Abba, Vater!“ (vgl. Röm 8,12-17) Schliesslich sprechen Christinnen und Christen Gott im Gebet, das auf Jesus selbst zurückgeht, an als „Vater unser“. Im Wissen darum, denselben Vater zu haben, im Wissen darum, dass Christus unser Bruder ist, sagt Paulus und sagen auch wir zu Recht, dass wir Brüder und Schwestern seien.
Alle ausdrücklich angesprochen
Deshalb ist es sehr zu begrüssen, dass in den Messlektionaren, die ab Advent 2018 nach und nach erscheinen, die Einleitung zu den Pauluslesungen nicht mehr nur „Brüder“ lautet, sondern „Schwestern und Brüder“. Auch in diesem liturgischen Buch werden in Zukunft also die Frauen, wenigstens in der Anrede, nicht nur mitgemeint sein, sondern explizit angesprochen werden.
Bei genauerem Hinsehen wird dieses Angesprochensein noch bedeutsamer. Denn wenn wir den Text der Lesungen mit den biblischen Vorlagen vergleichen, werden wir bis auf ganz wenige Ausnahmen feststellen, dass die Anrede „Schwestern und Brüder“ zum biblischen Text hinzugefügt wurde. Paulus und die anderen biblischen Briefeschreiber beginnen nicht jeden Abschnitt mit dieser Anrede. Sie ist bei der Lesung im Gottesdienst nicht Teil des biblischen Textes, sondern eine Art Vorzeichen, das uns bewusst macht, dass nun nicht nur ein historisches Dokument zu Gehör gebracht wird; – eine Art archäologisches Fundstück, von dem uns zweitausend Jahre trennen. Vielmehr sollen wir von diesem Gelesenen direkt angesprochen werden. Das heisst nicht, dass der Text nicht für unsere Zeit ausgelegt und interpretiert werden müsste. Aber es heisst, dass er uns etwas zu sagen hat! Der Text war nicht nur in der christlichen Gemeinde in Rom oder Korinth oder Galatien bedeutsam. Er wird es auch im Heute der konkreten Versammlung in Zürich oder Solothurn oder Mettau oder wo auch immer er gelesen wird, und damit auch im Heute jedes und jeder Einzelnen. Die Anrede „Schwestern und Brüder“ macht deutlich: Wir sind jetzt angesprochen!
Eine Hörgemeinschaft von Schwestern und Brüder
Die Anrede „Schwestern und Brüder“, die, wie schon gesagt, biblisch begründet ist, bezieht die Lektorin oder den Lektor auf besondere Weise mit ein. Anders als mit der Anrede „Liebe Gemeinde“, die manchmal zu Beginn eines Gottesdienstes oder einer Predigt zu hören ist, stellt sich die Vorleserin oder der Vorleser nicht als ein Gegenüber der versammelten Hörenden dar, sondern als eine Mitschwester oder ein Mitbruder, die oder der als Tochter und Sohn Gottes ebenfalls vom Text angesprochen wird und ihn nicht „nur“ verkündet.
Und anders als mit der Anrede „liebe Freunde (und Freundinnen)“ macht die Anrede als Geschwister deutlich, dass die Beziehung zwischen Lesenden und Hörenden und auch der Hörenden untereinander, nicht eine mehr oder weniger gewählte Freundschaft ist. Sie ist vielmehr begründet in der gemeinsamen Kindschaft Gottes, die vor und jenseits aller persönlichen Vorlieben besteht. Einen Freundeskreis, Freundinnen und Freunde wählt man sich sorgfältig aus. Bruder oder Schwester ist man. Man könnte sich als geistliche Übung am Anfang einer Lesung, die mit „Schwestern und Brüder“ beginnt, einmal umschauen und sich sagen: „Ja, alle die, die jetzt hier sind und zuhören, sind als meine Schwestern und Brüder mit mir angesprochen durch die Lesung. Sie sind meine Familie. Egal ob sie mir sympathisch sind, egal, ob ich im Alltag Kontakt zu ihnen habe, egal, ob Mann oder Frau, egal, ob wir derselben Schicht angehören (vgl. Gal 3,26-28): Mit ihnen allen bin ich geschwisterlich verbunden, weil sie und ich Kinder Gottes sind.
In dieser kleinen Änderung im neuen Lektionar, in ihrem bewussten Sprechen und im ebenso bewussten Hören, steckt also – noch bevor der biblische Text gelesen wird – , eine grosse Kraft, die sich dann auch im Alltag im Umgang mit den anderen Söhnen und Töchtern Gottes auswirken kann.
„Diese geschwisterliche Verbundenheit der Getauften ist spürbar zunächst, wenn Gott uns ohne Rücksicht auf Hautfarbe, Abstammung und soziale Schranken (Gal 3,26-28) an seinem Tisch versammelt im Mahl der Eucharistie und [in] jeder gottesdienstlichen Versammlung, auch wenn die entsprechende Gestaltung des Gottesdienstes eine Aufgabe ist, die oft nicht erfüllt wird (Jak 2,1ff.); sie muss sich über den gottesdienstlichen Raum hinaus bewähren im täglichen Leben, in der gegenseitigen Rücksichtnahme und Hilfeleistung (Röm 15,1-3). Wenn sie zunächst auch auf den Kreis der Getauften beschränkt ist, so dient sie doch nicht sich selbst, sondern der Welt; durch sie will Gott alle Völker beim Festmahl brüderlich vereinen (Jes 25,6).“ Rupert Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon, 52013, 62.
Dieser Beitrag ist Teil der Serie Rund um die Liturgie. Weitere Teile:
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