Existentielle Fragen und Erlebnisse teilen

Subjektorientierte Religionspädagogik stellt die Fragen der einzelnen Menschen ins Zentrum. Menschen haben existentielle Fragen ans Leben und die Welt als Ganzes. Sie machen Erlebnisse von Ausgeliefertsein, Beschenkt sein, Geborgensein, Verbundensein etc. Zunächst ist da eine Erfahrung, ein Erleben, ein seelisch-körperliches Empfinden. Solche Erfahrungen werden weitervermittelt und in Begriffe, Erzählungen, Lieder, Bilder oder Architektur gegossen, damit das zunächst nicht Nennbare anderen Menschen mit-geteilt werden kann. Solche Mit-Teilungen bezeichnen wir als Symbole (vgl. Kunstmann 2018, 101-110).

Lebensbezug von Symbolen

Die religiösen Symbole von Menschen in biblischen Zeiten haben als gebündelte Symbolsammlung in der Bibel und der christlichen Kunst die Zeiten überdauert. Sie sind ein Ausdruck davon, was die Menschen damals erlebt und mit dem Göttlichen in Verbindung gebracht haben. Das Symbol ist nicht zu verwechseln mit dem Göttlichen selbst, es ist nur ein Ausdruck, der uns ahnen lassen kann, was da subjektiv erlebt und gefühlt worden sein könnte. Heutige Symbolisierungen und Deutungen decken sich oft nicht mehr mit den Überlieferungen der christlichen Tradition. Es beginnen aber spannende Erkenntniswege, wenn man gemeinsam den Lebensfragen und -erfahrungen hinter den Symbolen der Menschen von damals wie heute nachspürt.

Rede vom Göttlichen lebensnah deuten

Umgekehrt können überlieferte Symbole Spuren legen zu eigenem religiösem oder vielmehr spirituellem Erleben, zu eigenen Fragen und Erfahrungen des Unverfügbaren. Dafür werden Symbole gedeutet und assoziativ mit der eigenen Lebensgeschichte abgeglichen. Wenn ein Symbol vor dem eigenen Lebenshintergrund gedeutet wird, entsteht eine Ahnung von dem, was die Urheber:innen des Symbols vielleicht erlebt und gefühlt haben, das sie mit-teilen wollten. Im Deuten von vorliegenden religiösen Symbolen erweitern Menschen der Gegenwart ihr Repertoire religiöser Sprachmöglichkeiten. Damit kann das eigene Erleben besser gedeutet werden.

Individuell Symbole kreieren

Verschiedene Menschen drücken das, was sie unbedingt angeht, das, was ihnen Halt und Sinn gibt im Leben, auf verschiedene Arten aus. Nicht alle finden sich etwa im Begriff «Herr», «Vater» oder «Gott» wieder. Aber vielleicht können sie nachvollziehen, dass jemand bestimmte Begriffe verwendet und damit etwas meint, was auch sie aus ihrer Erfahrung kennen. Menschen, die ihre eigene religiöse Sprache bewusst zu pflegen lernen, können auch mit individuellen Äusserungen von anderen Menschen umgehen, ohne in ein «gläubig-ungläubig» Schema zu fallen.  

Religiöse Sprachfähigkeit wird somit ein persönlicher kreativer Prozess, der nicht darauf abzielt, religiöse Traditionsinhalte korrekt wiederzugeben, sondern persönlich passende Begriffe und Bilder zu finden für das, was Menschen zunächst sprachlos in existentiellen Situationen begegnet und sie seelisch und körperlich berührt. 

Wechsel der Blickrichtung

Subjektorientierte Religionspädagogik macht nichts grundlegend Neues, sie wechselt bloss die Blickrichtung. «Der Perspektivwechsel weg von Thema und Tradition hin zu den Erfahrungen der Lernenden ist ein Wechsel weg von der Erklärung, der kognitiven Erfassung oder Erschliessung bestimmter Inhalte hin zu emotionalem Angesprochen-Sein und der Befähigung der Deutung des eigenen Lebens.» (Rosenow 16) Vom individuellen menschlichen Erleben aus geht der Blick zu den religiösen Traditionsinhalten. Diese werden auf individuelle Nachvollziehbarkeit hin geprüft.  

Spannend auch für Konfessionslose

Gerade junge Menschen, die kaum mit der christlichen Tradition vertraut sind, können spannende Entdeckungen machen, wenn sie Traditionsinhalte als Symbole verstehen lernen und dahinter existentielle Lebenserfahrungen von Menschen entdecken. Sie erhalten Anregungen, kreativ eine eigene Sprache für spirituelle Fragen und Erfahrungen zu entwickeln.  

Damit das gelingen kann, ist unabdingbar, dass die religionspädagogisch tätige Person für einen sicheren Rahmen sorgt, in dem Äusserungen zunächst anonym geteilt werden, bevor vielleicht einzelne Mut fassen und ihre persönlichen Einsichten persönlich teilen wollen. 

Sprachfähigkeit ab wann?

Ab wann sind junge Menschen genügend sprachkompetent, um sich an solche Fragen zu wagen? Bereits Kinder der Mittelstufe schätzen es sehr, wenn sie ungebremst Fragen stellen können und theologisierend daran weiterdenken dürfen. Die vielfältigen Zugänge und Denkansätze, die im Theologisieren mit einer Gruppe zutage treten, sind mindestens eine gute Vorbereitung auf eine vertiefte subjektorientierte Auseinandersetzung. 

Fazit

Subjektorientierung in religionspädagogischen Angeboten scheint ein Gebot der Stunde, wenn man den Traditionsabbruch in vielen Familien betrachtet. Die Menschen werden ins Zentrum gestellt. Mit der Anknüpfung beim eigenen Fragen und Erleben wird eine Grundlage für spannende, ergebnisoffene Auseinandersetzungen im Ringen um Sprache und Bilder gelegt. Gelingen solche partizipativen Prozesse, könnte das die Traditionsgemeinschaften heute verändern und für Menschen von morgen öffnen. «Die Inhalte religiösen Lernens sind nicht religiöse Traditionen, sondern die Lernenden selbst.» (Kunstmann 2021, 91) 

Am Donnerstag, 21. März 2024 findet in Bern eine Tagung mit Joachim Kunstmann zum Thema 'Was ist Bildung' statt. An der Tagung wird Kunstmann die Frage nach der Bildung mit der Sicht der Subjektorientierten Religionspädagogik verknüpfen.